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Vom Manuskript zum Buch (Teil 8)

„Lesen ist übersetzen“

Ich habe nahezu mein gesamtes Berufsleben in Verlagen zugebracht. Es waren neben der Arbeit an den Texten unzählige Programmbesprechungen, Vertreterkonferenzen, Autorengespräche, Buchmessen und Vertragsverhandlungen. Manchmal hat mich ein Werk wochen-, ja sogar monatelang beschäftigt.



Wenn ein Manuskript zur Publikation angenommen wurde – ob Auftragsarbeit oder freies Manuskriptangebot –, dann begann die formale Arbeit am Text – wie in meinem Beitrag Vom Manuskript zum Buch, Teil 7 (9. Juni 2016) beschrieben, und dies erfordert vor allem, sich ganz auf das Denken des Autors einzulassen, ja sich in dieses Denken hineinzubegeben. Karl Dedecius (+26. Februar 2016), der große Übersetzer, Lektor und Autor, dem 1990 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde, sagte in seiner Dankesrede: „...lesen bedeutet übersetzen lernen. Wer liest, übersetzt die Gedanken eines anderen in sein eigenes Verständnis; er bezieht die fremde Erfahrung in die eigene ein. Er belebt und bereichert seinen geistigen Stoffwechsel. Lesen ist übersetzen, und übersetzen ist vor allem richtig lesen“ (Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V., Frankfurt/M.).

Lesen ist wie eine Infektion, eine Infektion, der man sich freiwillig und ganz bewusst aussetzt. Als Lektor ist man gefordert, das eigene Denken, die subjektiven Vorstellungen zum Thema, zum Roman, zu der Sache hintanzustellen. Der Autor übernimmt in gewisser Weise die Macht- bzw. Denkzentrale, die Regie im Kopf des Lektors. Und das Denken des Autors nachzuvollziehen ist eine große Herausforderung. In den ersten Jahren als Lektoratsassistent habe ich oft meine Sicht, meinen Standpunkt über den fremden Text gestülpt. Und damit hatte ich mir das Leben selbst schwer gemacht, weil ich nun mit dem Autor zu kämpfen hatte, der sich in seinem Buch nicht mehr wiedergefunden hat. Das Problem beim Lektorieren eines Manuskripts ist es, einerseits den Text, wie ich es im letzten Beitrag beschrieben habe, zu bearbeiten, zu strukturieren, Teile zu streichen etc., andererseits aber den Duktus, den Stil und die Eigenheiten des Autors zu erhalten, diese also nicht wegzulektorieren. Das fiel mir manchmal wirklich nicht leicht.

Wenn man sich ganz auf den Stil, die Syntax, die Logik und eventuelle Redundanzen konzentriert, kann man hinterher oft nicht sagen, worum es in dem Text eigentlich geht. Das heißt, dass man das Manuskript nach der Bearbeitung noch einmal liest, ohne noch einmal große Korrekturen, Umstellungen etc. vorzunehmen, es sei denn, sie fallen jetzt erst ins Auge und sind dringend notwendig. Dann allerdings beginnt man mit der Arbeit wieder von vorn.

Nicht umsonst haben viele bekannte und hoch erfolgreiche Autoren über Jahre hinweg den gleichen Lektor. So mancher Autor wechselte sogar mit "seinem" Lektor den Verlag, wenn dieser das Unternehmen verließ und in einem anderen Verlag anheuerte. Ich bekam einmal von einem Autor einen Regiestuhl geschenkt, als ich das Unternehmen verließ, „weil Du“ – wie er sagte, als er mir den Stuhl überreichte – „zwölf Jahre die Regie bei meinen Büchern übernommen hast“.

Dr. Raimund Fellinger, Cheflektor im Suhrkamp Verlag, titelte in einem Interview, das er dem Magazin der Süddeutschen Zeitung im Februar 2016 gab: „Welcher Schriftsteller ist kein Kotzbrocken?“ Und er charakterisierte sehr treffend: „Ich darf in einem Manuskript von Andreas Maier nicht mit einem Thomas-Mann-Komplex herumfuhrwerken. Bei Maier soll man Maier kriegen.“ Besser kann man die Anforderung, wie ein Lektor an einen Text herangehen sollte, nicht beschreiben. Und dies gilt nicht nur für literarische Texte, sondern auch für Sachbücher und Ratgeber. Auch dort darf der Lektor (beim Sachbuch oder Ratgeber handelt es sich eher um Redakteure) das Werk nicht so stark bearbeiten, dass man hinterher den Eindruck hat, es sei der Text des Redakteurs. Die Herausforderungen bei einem Sachbuch oder Ratgeber sind eher sachlich-inhaltlicher Natur. Hier muss der Lektor oder Redakteur häufig korrigieren oder ergänzen und den Text allgemein verständlich machen, den hölzern wirkenden Nominalstil in einen lebendigen Verbalstil umformulieren. Weil es also eher um Inhalte geht, sollte ein Lektor in einem juristischen Verlag ein Jurastudium, ein Lektor, der in einem Schulbuchverlag arbeitet und Unterrichtswerke für Mathematik bearbeitet, ein Mathematikstudium absolviert haben und etwas von Unterrichtsdidaktik verstehen etc.

Namhafte Foodfotografen zum Beispiel haben meistens sowohl eine Koch- als auch eine Fotografenausbildung hinter sich. Dies ist für die Foodfotografie eine sehr wichtige Voraussetzung. Und solche Voraussetzungen braucht es auch im Lektorat.

Wenn ein Lektor einen Text bearbeitet, ist dies häufig mit Friktionen verbunden. Es ist eine Art Reifezeit, in der sich Lektor und Autor zusammenraufen, Vertrauen aufbauen und zu einer gedeihlichen Zusammenarbeit finden. Wenn ich heute ein Kochbuch einer renommierten Kochbuch-Autorin, mit der ich mittlerweile über 20 Jahre zusammenarbeite, redigiere, dann gibt es nahezu keinerlei Konfliktpunkte mehr, da wir uns inzwischen sehr gut kennen, freundschaftlich verbunden sind und genau wissen, wie der bzw. die andere denkt, welche Eigenheiten ich bzw. sie hat etc. Und wir wollen vor allem eins: ein gutes Buch produzieren, das den Weg zum Leser findet und das den Leser nicht enttäuscht, das seine Erwartungen erfüllt. Einer meiner Verleger sagte einmal überspitzt: Nur ein verkauftes Buch ist ein gutes Buch.

Und noch etwas ist mir sehr wichtig: Der Lektor ist der Erstleser eines Textes. Er muss sich diese Tatsache immer wieder bewusst machen und daher mit dem Text und seinem Autor sensibel umgehen. Denn es ist immer wieder eine Art seelischer Striptease, wenn ein Autor seine geistigen Ergüsse einem Fremden zum Lesen gibt und sich damit angreifbar macht, die Hosen herunterlässt. Und wenn dieser Prozess ehrlich und mit offenem Visier geführt wird, dann trifft das Zitat von Raimund Fellinger abgewandelt auch für die andere Seite zu: „Welcher Lektor ist kein Kotzbrocken?“

Josch 23.07.2016, 23.05

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Kommentare zu diesem Beitrag

1. von Julia Feldbaum

So habe ich mich noch nie gesehen. Aber da ist schon was dran, wenn ich an das ein oder andere Projekt denke :-)!

vom 30.07.2016, 21.55
Antwort von Josch:

Wenn ich mich intensiv mit einem Werk auseinandergesetzt habe, habe ich mich oft sogar geärgert, dass ich jetzt die Gedanken eines Fremden in dieser Heftigkeit in meinen Kopf lassen musste und sie sich dort breit machen konnten, dass ich sie sogar noch fördern musste, als seien es meine eigenen. Und dann hatte ich das Gefühl, ich denke wie der Autor. Das war aber vorwiegend bei der Belle und vor allem bei Sachbüchern der Fall. Und ich habe wirklich einige wunderbare Sachbücher betreut, auf die ich auch stolz bin ...
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