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Ich werde die Welt nie wiedersehen

„Literatur ist mächtiger als Tyrannei“

Mit dieser Aussage endet die Rede von Ahmet Altan, die Yasemin Congar anlässlich der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises am 25. November 2019 verlas, da der Autor seit über 2 1/2 Jahren in der Türkei im Gefängnis sitzt. „Literatur ist mächtiger als die Tyrannei“ ist sozusagen das Programm seines Buches „Ich werde die Welt nie wiedersehen“, für das Ahmet Altan, der große türkische Intellektuelle und Schriftsteller den renommierten Preis verliehen bekam. „Ich werde nie wieder den Himmel ohne den Rahmen sehen, den die Wände des Gefängnishofes bilden.“ Ahmet Altan befindet sich seit dem Sommer 2016 in Haft. Im Februar 2018 verurteilte ihn das Gericht in Istanbul erneut zu lebenslanger Haft. Nach dem gescheiterten Militärputsch im Juli 2016 verhängte der türkische Präsident den Ausnahmezustand. Es kam zu Massenverhaftungen und massenweisen Entlassungen von Staatsangestellten. Mehrere Hundertausend Bücher wurden verboten, über 150 Medienhäuser geschlossen.



Einen Tag vor dem Putschversuch im Juli 2016 hatte Ahmet Altan bei einem Fernsehauftritt gesagt: „Die AKP wird ihre Macht verlieren, und sie wird vor Gericht gestellt werden.“ Dieser Satz reichte aus, um Ahmet Altan lebenslang hinter Gitter zu bringen, weil dieser Satz nach Ansicht des Gerichts eine Botschaft an die Putschisten darstellte.


Ahmet Altan: Zeitzeuge und Ankläger

„Ich werde die Welt nie wiedersehen. Texte aus dem Gefängnis“ ist ein zutiefst aufwühlendes Buch. Es beginnt mit den Sätzen: „Ich erwachte. Es klingelte an der Tür.

Ich sah herüber zu der elektronischen Uhr. Die Anzeige 05.42 blinkte und verlosch.

'Die Polizei', dachte ich.

Wie alle Oppositionellen in meinem Land ging ich jede Nacht zu Bett in der Erwartung, dass im Morgengrauen an meiner Tür geläutet würde.

Ich wusste, dass sie kommen würden.

Nun waren sie gekommen.“

Ahmet Altan lässt die Polizisten der Abteilung Terrorbekämpfung in die Wohnung. Während sie die Wohnung durchsuchen, setzt Altan Teewasser auf und fragt die Polizisten, ob sie auch einen Tee mögen. Sie lehnen ab. Er trinkt seinen Tee und isst sein Müsli, wartet, bis die Polizisten mit der Durchsuchung fertig sind. Dann bringen sie ihn in einem zivilen Polizeiauto ins Gefängnis.

„Die Toten, so heißt es, wissen nicht, dass sie gestorben sind.“

„Nie mehr sollte ich die Frau, die ich liebte, küssen, meine Kinder umarmen, mich mit meinen Freunden treffen, in den Straßen herumlaufen können.“

„Wer einen Schriftsteller von der Sprachkraft Altans einsperrt, muss eigentlich wissen, dass er zum Zeitzeugen und zum Ankläger wird“, so Christiane Schlötzer in ihrer Laudatio bei der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises. Aber offenbar denken die Machthaber nicht so weit. Ahmet Altan dagegen ist ein Visionär. Er sieht das Ende der Tyrannei heraufziehen. „Die wirklich große Gefahr für Erdogan sind nicht die Stimmen seiner Gegner, sondern das Schweigen seiner Unterstützer“, so Ahmet Altan.


Zusammenleben im Gefängnis

Ganz besonders berührte mich eine Passage des Buches, in dem Ahmet Altan über seine frommen Zellengenossen schreibt, die täglich ihre Gebete verrichten und Altan distanziert begegnen, weil er ein Ungläubiger ist. „Mein Gesprächspartner war beim Thema Religion äußerst empfindlich. Trotzdem konnte ich mich manchmal nicht zügeln und hänselte ihn wie ein Schuljunge. Das nahm er mir dann übel und sprach drei Tage lang nicht mit mir. In Übereinstimmung mit Mohammeds Diktum „Ein Muslim grollt seinem Bruder nicht länger als drei Tage“ versöhnte er sich am dritten Tag mit mir.“

Eines Tages wird die zwanzigjährige Tochter des Zellengenossen verhaftet. „Es war dem Mann anzusehen, wie sehr der Schmerz in seinem Innern wühlte.“ Altan verspricht ihm, mit ihm zusammen den Namaz (muslimisches Stundengebet) zu verrichten, sobald die Tochter frei ist. Als diese nach drei Monaten freigelassen wird, löst Altan sein Versprechen ein. Dies hat das Verhältnis des Mitgefangenen zu ihm grundlegend zum Guten verändert.

„Die mich hier eingesperrt haben, mögen die Macht dazu besitzen. Doch mich im Gefängnis festzuhalten, dazu reicht ihre Macht nicht. Ich bin Schriftsteller. Ich bin weder, wo ich bin, noch, wo ich nicht bin (…)

Ihr könnt mich einsperren, wo immer ihr wollt. Auf den Flügeln meiner unendlichen Vorstellungskraft werde ich die ganze Welt bereisen (…)

Ihr könnt mich ins Gefängnis stecken, doch ihr könnt mich dort nicht festhalten.

Weil ich die Zaubermacht besitze, die allen Schriftstellern eigen ist. Ich kann mühelos durch Wände gehen.“


Würdigung

Es fällt mir schwer, dieses Buch angemessen zu würdigen. Es ist weder ein „wunderbares“ Buch noch eines, das man schnell mal nebenbei liest. Es ist ein eindrucksvolles, sehr bewegendes Buch. Es macht gegen alle Hoffnungslosigkeit Hoffnung und Mut, da es zeigt, was die Fantasie, die Kraft des Widerstands bewirken kann. Es ist ein höchst optimistisches Buch, obwohl es in einer vermeintlich ausweglosen Situation geschrieben ist. Es ist ein Therapeutikum gegen Angst, Unterdrückung, Ausweglosigkeit und Pessimismus. Ich kann dieses Buch daher nur jedem ans Herz legen.


Ahmet Altan, geboren 1950 in Ankara, hat in den vergangenen 35 Jahren zehn Romane und mehrere Essays geschrieben. Seine Bücher begeistern Millionen Menschen in der Türkei.

Ahmet Altan: Ich werde die Welt nie wiedersehen. Texte aus dem Gefängnis. S. Fischer Verlag. Frankfurt 32019. ISBN 978-3-10-397425-6; 173 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag. 12,00 €

Josch 31.12.2019, 12.38

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Kommentare zu diesem Beitrag

1. von karin

danke für die buchempfehlung, ich werde es lesen und dann habe ich ganz viel zu denken, natürlich, die tatsache, dass in der heutigen zeit bücher verboten werden, das schreiben (und das denken), unvorstellbar, und in einem land so nah dem unseren und und und...., und dass so unglaublich viele menschen im gefängnis sind und den dortigen verhältnissen ausgesetzt, unvorstellbar zu was der mensch (mit macht) fähig ist.....

vom 02.01.2020, 05.02
Antwort von Josch:

Es freut mich sehr, wenn ich mit meiner Buchempfehlung ein wenig zum Nachdenken anregen konnte, was ja die Intention meines Blogs ist. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Kommentare. LG
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