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Berliner Briefe

"Was ist aus uns geworden?"

Was ist aus uns geworden? Oder sollte man besser fragen: „Was wird aus uns werden?“ Man liest in letzter Zeit häufig, dass wir uns im Krieg befinden würden. Im Krieg gegen ein Virus. Das ist ein völlig falsches, unpassendes Bild. Wer die Pandemie und ihre Auswirkungen als Krieg beschreibt, der diskriminiert und setzt sich verächtlich über die Leiden der Menschen hinweg, die einen wirklichen Krieg durchlebt haben oder im Krieg ihr Leben gelassen haben. Über die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs und was der Krieg aus den Menschen im Nachkriegsdeutschland gemacht hat, geht es in den dreizehn fiktiven Briefen von Susanne Kerckhoff an einen Freund in Paris, der vor Ausbruch des Krieges emigriert war. „Was ist aus uns geworden?“ fragt sie in ihrem ersten Brief. Ja, was ist aus den Menschen geworden, die diesen furchtbaren Krieg überstanden haben?



Politische Verwandlungskünstler

Ihr Lebensgefühl sei, so schreibt die Autorin, „ein Teil des Trümmeratems von  Berlin – Staub, Ruinen, Tote – aber auch Hoffnung, Zuversicht, Neubau...“ Der fiktive Briefwechsel beginnt 1947, da ist die Absenderin 29 Jahre alt und steht als Sozialistin und ehemaliges SPD-Mitglied den vielen politischen Chamäleons fassungslos gegenüber. Der Roman ist eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Strömungen der Zeit. Mit dieser kritischen Reflexion macht die Briefschreiberin auch vor sich selbst und ihrer Suche nach politischer und gesellschaftlicher Identität nicht halt. Es ist einerseits diese tastende Suche und andererseits die intellektuelle Kraft dieser Auseinandersetzung, die das Buch hochaktuell machen. Gleichzeitig vermittelt es die gesellschaftlich-politische Situation im Nachkriegsdeutschland.


Den Nazismus bekriegen

Im siebten Brief schreibt die Autorin, dass sie nur darauf bedacht sei, den Nazismus zu bekriegen. Und das Buch legt letztendlich Seite für Seite Zeugnis davon ab. Der Kampf gegen den Nazismus war, wie sie schreibt, Thema vor dem Krieg und ist es nach dem Krieg. Der Kampf gegen den Nazismus darf für uns nicht Geschichte sein. Er muss heute so dringend geführt werden wie damals. Das belegen die furchtbaren Taten des NSU und die jüngsten Morde von Wolfhagen, Halle und Hanau. Seit 1990 starben 209 Menschen durch rechtsextreme Gewalt. Das wird in Zeiten, in denen es nur noch ein Thema gibt, nämlich die weltumspannende Sorge um unsere Gesundheit, leicht vergessen. Und nichts hilft dem Neonazismus mehr als schweigen und verschweigen, ignorieren und verharmlosen.

Sehr schrecklich, Freunde, ist das Schweigen.

Doch schweigen schrecklicher noch die

mit kaltem Mund dort drüben schlafen,

zerteilt in der Anatomie.

Zum Kampf gegen den Nazismus gehört die Auseinandersetzung mit den Inhalten, mit den Vertretern, mit den schleichenden Übergängen, mit den politischen Chamäleons, die es auch heute wieder gibt. Susanne Kerckhoff hat diesem Kampf Namen und Inhalt gegeben. Ihre Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Strömungen der frühen Nachkriegsjahre spart auch die Rolle der großen christlichen Religionen im Nationalsozialismus nicht aus.


Fazit

Der Herausgeber und Verleger Peter Graf schreibt im Nachwort des Buches: „Sie (Susanne Kerckhoff, Anmerkung d. Verf.) wollte sich einmischen: deutlich, vernehmbar sein, streitbar, aufrichtig  und unbequem die richtigen und wichtigen Fragen stellen und mit den Gleichgesinnten, den „Prohumanitären“ – wie sie ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter im Geiste nannte – einen echten Neuanfang wagen.“

Es sei mir nachgesehen, dass ich immer wieder auf die aktuelle Situation zurückkomme: Jede Krise birgt die Chance zur Veränderung, der Neupositionierung. Die Pandemie eröffnet auch andere Seiten, führt zu neuen Erkenntnissen, zum Beispiel, dass das Leben auch ohne Turbokapitalismus gelingen kann. Dies muss ja nicht gleich zu einem  Neokommunismus führen. Dass Kurskorrekturen gelingen, das macht das ungewöhnliche und verlegerisch mutige Buch deutlich.


Susanne Kerckhoff, 5. Februar 1918 bis 15. März 1950 (durch Freitod) in Berlin, war Autorin und Feuilleton-Redakteurin, unterstützte rassistisch und politisch Verfolgte. Werke u.a.: Tochter aus gutem Hause (Roman); Die verlorenen Stürme (Roman); Berliner Briefe (1948, Ess)

Susanne Kerckhoff: Berliner Briefe. Roman. Verlag das kulturelle Gedächtnis. Berlin 2020. ISBN: 978-3-946990-36-9, 113 Seiten, 20,00 €

Josch 16.04.2020, 19.34

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