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Märchen: Schlüssel zur Welt

Erwachsene brauchen Märchen

Vor Kurzem blieb ich bei der Suche nach einem Buch über Träume bei meiner kleinen Märchen- und Sagensammlung hängen. Ich vergaß dabei die Traumsymbole, schmökerte in Grimms Märchen, in einer Erstausgabe Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland aus dem Jahr 1854 und blieb schließlich an „Die Alp von Golzern“ hängen, die ich in Frederik Hetmanns wunderbarer Sammlung „Dämonengeschichten aus den Alpen“ fand. Alte Bücher, alte Geschichten, viele davon werden seit Generationen gelesen, vorgelesen, aber manchmal auch abgelehnt, weil sie angeblich für Kinder zu brutal sind, oder sie werden wegen der veralteten Inhalte belächelt.

Ich persönlich finde Märchen faszinierend, anspruchsvoll, unterhaltsam, spannend und hilfreich, wie es so mancher berufenere Rezipient und Forscher, angefangen von Bruno Bettelheim bis hin zu Felicitas Betz, Sigrid Berg oder Walter Kettler vor vielen Jahren bereits hinreichend belegte.



Ein Beispiel:

Die Alp von Golzern

Golzern war vor alten Zeiten eine Alp. In der Hütte, da walteten drei Alpenknechte oder drei Brüder: Ein Senn, ein Küher und ein Diener. Sie hatten wenig Arbeit; denn das Vieh brauchte auf der Weide fast gar nicht gehütet zu werden und wurde nie gestallt.

Einst, da sie vor Übermut oder vor Langeweile nicht mehr wussten, was anfangen, gingen sie hin, schnitzten aus einem Stück Holz einen rohen Kopf, kleideten denselben in Lumpen und stellten die so entstandene Figur hinter den Tisch.

Sie hatten ihr Gespött mit diesem Toggel oder Tunsch und riefen ihn „Hänsäli“, was wohl heißen soll Hanseli. Wenn sie Rahm aßen, fragten sie: „Hänsäli, magst auch?“, und warfen ihm ein wenig zu; wenn sie ihren Nidelreisbrei (Reis mit Rahm) verzehrten, fragten sie wieder: „Hänsäli, magst auch ein bisschen?“, und strichen ihm etwas unter die Nase und ums Maul. Nach und nach gaben sie ihm den Löffel in die Krallen und zeigten ihm, wie er dazu tun müsse, wenn er fressen wolle. Und, lässt sich's glauben – der Toggel fing an zu fressen! Da erschraken sie zuerst, gewöhnten sich aber für und für daran und trieben wieder ihre Späße.

Als sie einmal Karten spielten, fragte der Senn: „Hänsäli, willst du auch spielen?“, und drückte ihm die Karten in die Pratzen; zuerst musste er nur die Karten halten, und sein Partner nahm sich selbst eine von dem Blatt, das er hielt und spielte sie aus. Nach und nach aber hielt der Tunsch die Karten fest und spielte selber. Das war ein Spaß! Von nun an spielte er jedes Mal mit, und wer's mit ihm hatte, der gewann immer.

Der Balg nährte sich gut und gedieh. Alle Sonntage mussten sie ihn auf den benachbarten Chrottabiel an die Sonne hinübertragen, und er war so fett, dass alle Alpknechte miteinander ihn kaum zu tragen vermochten.

Am buntesten mit ihm trieb's halt doch der Senn. Der Sommer war dahin; die Alpdriften erbleichten, und der Winter hatte schon die ersten Vorposten auf die Bergspitzen gestellt. Da hieß es abfahren von der Alp. Als die Kühe zusammengetrieben waren und alles bereitstand, stellte sich auch Hänsäli ein, aber nicht, um einen rührenden Abschied zu feiern.

Mit ernster und fester Gebärde gebot der Toggel dem Senn, als dem Oberhaupt der Alp, zu bleiben, den anderen erlaubte er, abzufahren, aber ja nicht zurückzuschauen, bis sie das Egg erreicht hätten. So geschah es, der Senn blieb, die anderen zogen mit dem Vieh ab, und als sie die Egg erreicht hatten, schauten sie zurück und sahen mit Zittern und Schrecken, wie der Toggel des Senns blutige Haut auf dem Hüttendach ausbreitete.

*Toggel oder Tunsch: Sagengestalt; Nidel: Schlagrahm


Märchen als Lebenshilfe

Die Geschichte ist zweifellos grausam. Sie beginnt so entspannt, lässt an Bergwanderungen, an Ruhe und Entspannung, Rückzug und Ruhe, gemütliche Almen und Hütten, an einfache, leckere Speisen und unkomplizierte Menschen denken. Doch der Rückzug und die Abgeschiedenheit lässt Langeweile aufkommen. Nichts kann ablenken, kein Fernsehen, kein Radio, kein Smartphone. Dann vertreibt man sich eben die Zeit mit Kartenspiel. Man unterhält sich, redet, erzählt. Und plötzlich schlägt die Stimmung um. Vielleicht hat der andere etwas gesagt, was mich verletzt oder was mich ärgert, womit ich jedenfalls nicht einverstanden bin. „Bei Gesprächen ärgert mich ein Halbsatz, wie ein Zahnrad berührt er anderen Ärger, greift tiefer, holt Verletzung und Verwundung von vor fünf Jahren hervor, das Räderwerk bohrt weiter: Schülerdemütigungen, Verachtung durch Freunde, Beleidigungen durch den Vater (…) und plötzlich ist die Faust da, die zuschlagen will“, schreibt Walter Kettler.

Bin ich nicht Senn und Tunsch, Schöpfer und Spötter, Narr und zum Narren Gehaltener, Vermittler und Aggressor, Vergebender und Strafender, Verzeihender und Rächer in einer Person?


Fazit

Die Geschichte ist nach wie vor aktuell, wenn ich mich darauf einlasse, sie auf mich wirken lasse. Wie oft werde ich wütend, wenn ich Nachrichten höre, Zeitung lese oder mir Talkrunden ansehe. Wenn es doch für manchen Menschen so einen Tunsch gäbe, der stellvertretend meine Wut ausleben könnte. Das passiert alles nur im Kopf, wie auch die Geschichte nur im Kopf entstanden ist. Schließlich geht es ja nicht um einen Tatsachenbericht. Und dennoch enthält sie eine Wahrheit, die über einen reinen Tatsachenbericht hinausgeht.

Ich finde, es ist lohnenswert, sich von Zeit zu Zeit mit Märchen, Mythen und Legenden zu beschäftigen. Sie zu lesen, sie auf sich wirken zu lassen und ein wenig darüber zu meditieren.


Literatur
Die Alp von Golzern, aus: Hetmann, Frederik: Dämonengeschichten aus den Alpen. © Fischer-Taschenbuch Verlag. Frankfurt 1977

Kettler, Walter: Von Gott und Jesus im Kindergarten reden. Kösel-Verlag. München 1979

Bettelheim, Bruno: Kinder brauchen Märchen. Deutsche Verlags-Anstalt. Stuttgart 1977

Betz, Felicitas: Heilbringer im Märchen. Kösel-Verlag. München 1989

Betz, Felicitas: Märchen als Schlüssel zur Welt. Verlag Ernst Kaufmann. Lahr/Schwarzwald 1977

Berg, Sigrid: Der Mann und die Frau und das Kind. Calwer Verlag. Stuttgart. Kösel-Verlag. München

Abbildung: © pixabay.com/FelixMittermeier

Josch 28.01.2021, 20.39

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