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Déjà-vu in Estaing. Fortsetzungsroman 1

Kapitel 1

Bereits seit 7:00 Uhr am Morgen sitze ich im Büro. Und das nun schon seit Wochen. Eigentlich bräuchten wir dringend Verstärkung. Aber ich kann mich einfach nicht dazu entschließen, noch jemand einzustellen. Es gibt zu viele Unbekannte, zu viele Unwägbarkeiten. Lustlos sitze ich in meinem schicken, abgedunkelten Büro und starre auf den Bildschirm. Um mich herum herrscht Stille. Marcel und Luisa kommen meistens erst gegen 9:00 Uhr. Es ist zum Verzweifeln: Dieses herrliche Wetter, und ich habe einfach keine Zeit, den Sommer zu genießen.



Die Eingangstür unserer Agentur wird aufgeschlossen. Es ist Franziska, meine Assistentin. Ich erkenne sie an ihren festen, federnden Schritten. Gleich steht sie vor meiner Tür.

„Guten Morgen, Dan, so früh schon fleißig? Bist du mit dem Layout gestern nicht mehr weitergekommen?“ Franziska scheint wirklich rührend besorgt zu sein. Ohne auf eine Antwort von mir zu warten, kommt sie um den Schreibtisch herum, beugt sich zu mir herab und haucht mir zwei Begrüßungsküsschen auf die Wangen. Sie sieht wie immer umwerfend aus. Doch bei allem Chic ist sie für ihr Alter sehr ernst.

Das Telefon klingelt. Am Display sehe ich, dass es Pit Wouters ist. Der Marketingchef des wichtigsten Kunden meiner Agentur. Ich kann seine drängenden Fragen im Moment nicht ertragen.

„Franziska, kannst du das Gespräch bitte annehmen? Sag Pit, dass ich gerade auf der anderen Leitung spreche. Und versprich ihm, dass er heute Mittag neue Entwürfe bekommt.“

Das Handy summt. Meine Frau will mich sprechen. Wieso ruft sie an? Ich muss drangehen, obwohl ich eigentlich keine Lust dazu habe.

Noch bevor ich etwas sagen kann, sprudelt Katharina los. Tim ist krank und kann deswegen nicht in die Schule gehen. Dabei hätte er heute ein Referat halten müssen. Zu dumm. Ob ich ihn am Nachmittag zum Arzt fahre, sollte sich sein Zustand bis dahin nicht bessern? Sie könne sich heute unmöglich freinehmen. Sie müsse in den Kindergarten.

Inzwischen sind auch Marcel und Luisa eingetroffen. Ich bitte die beiden, an der Kampagne weiterzuarbeiten. Und ob sie vielleicht auch meinen Umschlagentwurf optimieren könnten? Die Typo steht nicht gut. Das Ganze hat keine Spannung. Ob man nicht die Titelformulierung ändern sollte? Ich werde mit Pit sprechen müssen.

Luisa kommt langsam schlurfend in mein Büro und setzt sich, die nackten Beine unter dem engen Rock übereinandergeschlagen, auf meinen Schreibtisch. Dann beugt sie sich nach vorn und sieht mich mit hochgezogenen Brauen eine Ewigkeit an, bevor sie zu sprechen beginnt: „Wir arbeiten alle am Limit, und das schon seit Wochen. Du weißt das, und du solltest endlich jemand einstellen, bevor einer von uns aussteigt.“

Ich habe keine Lust, auf die Drohung einzugehen: „Kennst du jemand, der zu uns passen würde?“

Luisa wiegt unmerklich den Kopf. „Ich könnte mich mal in der Hochschule umhören oder meinen ehemaligen Prof fragen, ob er uns jemand empfehlen kann.“

„Gute Idee, Luisa. Tu das. Ich muss mal eine Pause machen. Und wir müssen mit diesen furchtbaren Umschlägen weiterkommen.“

Wortlos verlässt Luisa den Raum.

Auf dem Weg ins Besprechungszimmer, wo ich hoffe, ein wenig abschalten zu können, höre ich sie schon mit dem Sekretariat der Uni telefonieren. Irgendwie verstehe ich sie ja.

Seufzend lasse ich mich auf die Couch fallen. Mir wird im Moment einfach alles zu viel. Katharina hat sich in den letzten Monaten immer weiter von mir entfernt. Dabei steht unser Urlaub vor der Tür. Sie hat eine kleine Ferienwohnung auf Kreta gebucht, in einem verlassenen Dorf im Südosten der Insel. Und wir haben bis dato keine Silbe darüber verloren. Wie stellt sie sich das vor? Immer wenn ich daran denke, beschleicht mich ein unangenehmes Gefühl. Ob wir dort miteinander reden können? Ich bezweifle es. Irgendwie ist der Karren schon zu stark festgefahren.

 

Mir fallen meine Eltern ein. Als Mutter starb, hatten die beiden 46 Jahre hinter sich. Es war sicher kein Leben in purer Harmonie. Was mich als Kind aber immer sehr beeindruckte, war, wie liebevoll sie miteinander umgegangen sind. Selbst in den Zeiten, als sie von ihrem Geschäft ganz in Beschlag genommen wurden. Vater war ein genialer Kaufmann, und es gab für ihn nichts Größeres als zufriedene Kunden. Wie oft lieferte er noch nach Geschäftsschluss ein paar Pfund Tomaten oder einen Bund Petersilie an eine Kundin, die ihm wichtig war. Service ist alles, sagte er dann lächelnd, wenn Mutter ihm vorhielt, dass sich das doch nicht rentiere. Und Vater hatte recht. Für ihn war es das Höchste, seine Kunden zufriedenzustellen. Damit schuf er einen Viktualienhandel, der sich noch heute sehen lassen kann. Siegfried, der das Geschäft geerbt hat, dürfte heute sicher an die fünfzig Angestellte haben. Was war ich froh, dass meine Eltern damals von mir nicht erwarteten, wie mein Bruder Siegfried ins Unternehmen einzusteigen. Wenngleich sie meine ersten Kunden in der Agentur waren. Und heute noch läuft die gesamte Werbung, jede kleine Anzeige, über meinen Laden. Trotz all der Umtriebigkeit meines Vaters, haben meine Eltern nie den Respekt voreinander verloren. Wenngleich sie auch öfter gestritten haben, wie es wohl in jeder Partnerschaft der Fall ist, demonstrierten sie vor uns Brüdern immer ihre Bereitschaft zur Versöhnung. Dann gingen sie stets zum Essen in ein gutbürgerliches Lokal. Da durften wir dann meistens nicht mit, weil sie sich „heut selbst feiern müssen“, wie Mama immer sagte. Was waren sie doch für wunderbare Eltern. Sie lebten uns eine Ehe vor, wie es sie heute scheinbar nicht mehr gibt. Was habe ich aus diesem Vorbild nur gemacht?

 

Auf dem Beistelltisch neben der Couch liegt ein neues Hochglanzmagazin. Das kann nur von Franziska sein. Sie ist der gute Geist unserer Agentur. Und das in ihrem Alter! Unglaublich. Wenn sie nicht so jung wäre …

Wie haben wir uns eigentlich kennengelernt? Ich erinnere mich: Es war bei dieser ominösen Verlagsparty vor drei Jahren. Sie machte gerade ein Praktikum und stand kurz vor ihrem Bachelor-Abschluss in Literaturwissenschaft. Ich hatte ihr spät in der Nacht angeboten, doch mal bei uns vorbeizukommen. Eigentlich hatte ich nicht damit gerechnet. Man redet ja oft Belangloses daher, wenn man nicht mehr ganz nüchtern ist. Dass sie sich an meine Einladung erinnern und Ernst machen würde, hat mich sehr beeindruckt. Und als sie eines schönen Abends vor mir in meinem Büro saß und mich aus großen grünen Augen ansah, wusste ich, dass ich sie einstellen würde. Wie hätte ich ihr auch widerstehen können? Ich habe dann sehr schnell festgestellt, welch ein Glücksgriff sie ist. Und nun arbeitet Franziska hier in der Agentur und ist dabei, ihren Master zu machen. Nebenbei, wie sie sagt, ist es leichter, als den ganzen Tag in der Uni zu sitzen. Unglaublich.

 

Josch 06.01.2017, 00.00

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