Kapitel 8

Ich sitze dank erster Klasse im Intercity allein in einem Abteil, nichts und niemand stört mich, kein Handy lenkt mich ab, kein Mitreisender wickelt Leberwurstbrötchen aus. Und doch kann ich mich nicht konzentrieren. Der Abend mit Franziska beherrscht mein ganzes Denken. Heftig bebt unser gestriger Abend in mir nach. Schon im Kino konnte ich mich nur mühsam beherrschen, sie nicht an mich zu ziehen, zu betatschen, zu streicheln, sie zu küssen.

Mein Mund war trocken, die Unsicherheit stärker als das Begehren. Wie hätte sie sich auch wehren können? Und dann die bangen Berührungen in ihrem Appartement, der Insel, wie sie es nennt, die alles, was ihr lieb ist, schützt und offenbart.

Ich bin sehr aufgewühlt. Wie soll es nun weitergehen? Hätte ich die stumme Frage, sie zu begleiten, ignorieren sollen? Wir gingen nebeneinanderher, gehemmt und doch vertraut. Wortlos nahm sie mich mit, was ich genoss. Sie ließ mir den Vortritt. Wir saßen da und sahen uns nur an. Ein intensiver Kuss, ein zartes Streicheln, gehemmt und voller Staunen nahm ich sie in die Arme. Sie legte den Kopf an meine Schulter und erwiderte die Zärtlichkeiten, in die ich mich verlor. Wir haben unser Begehren unterdrückt, als wir uns ineinander zerknäulten. Es war Franziska, die die Grenze zog. Ich habe es verstanden. Wir blieben stumm, und doch waren wir uns innerlich ganz nah.

Ich lief danach noch eine Stunde durch die Stille, die kühlende Nacht und konnte, als ich endlich zu Hause war, kaum schlafen.

Und heute fühle ich mich wie in einer Art Zwischenzustand: eingekeilt zwischen längst Vergangenem und banger, unberechenbarer Zukunft. Wie soll ich Katharina sagen, was ich eigentlich nicht beschreiben kann? Real war ich ihr gar nicht untreu. Und sie – ist sie mir treu? Je länger ich darüber nachgrüble, desto größer werden meine Zweifel. Wann beginnt Untreue, wann wird Wahrheit Stück für Stück zur Lüge? Zur Lüge vor sich selbst. Wie ist es mit den Bildern, Träumen, Wünschen, den schlüpfrigen Fantasien? Untreue in Gedanken oder Abkehr von der Wirklichkeit? Wie kommt es zu diesem überwältigenden Begehren?

„Wir begehren, was wir sehen“, sagt Hannibal Lecter in „Das Schweigen der Lämmer“. Ist es der Mensch, nach dem ich mich verzehre, oder ist es einfach nur die Lust, die in mir brennt? Wie konnte es nur passieren, dass uns das Begehren in der Ehe abhandengekommen ist? Diese sterile Unlust, hat sie sich langsam an mich herangeschlichen? Sind nicht die Flucht- und Ausbruchsversuche Dämonen meiner Sehnsucht? Am Anfang war es leise Unlust, sie wurde zur Bequemlichkeit, bis eines Tages die Liebe und mit ihr das Liebesleben ein Teil der ehelichen Routine geworden war, wie Essen zubereiten oder Wäsche waschen. Unausgesprochen wie eine Pflicht, die man vor dem Altar ganz selbstverständlich auf sich nahm. In meiner Erinnerung kreise ich immer wieder um das gleiche Problem, immer wieder, mit immer neuen Namen, Nuancen und Perspektiven.

Ein Blick zu Uhr: In einer Stunde bekommt meine Reise in die Vergangenheit ein Gesicht. Ich bin gespannt, wie mich Magdalena Salomon aufnehmen wird. Warum unternehme ich diese Tour? Ob sie Licht in meine kunstvoll verdrängte Geschichte bringen kann? Achtung, Baustelle! Baustellen, immer neue Baustellen tun sich auf, und keine Lösungen ist in Sicht.

Ich klappe mein MacBook auf und starre auf den Bildschirm, den ich mir vor ein paar Tagen neu erstellt habe: ein Esel, mit einem großen Sack auf dem Rücken, der einen Saumpfad hinaufgeführt wird. Der junge Eseltreiber mit nacktem Oberkörper und einem langen Stock in seiner Rechten blickt seitwärts lässig lächelnd in die Kamera. Das Foto erinnert mich an die Cevennen. Hatte nicht Hagen Wandel damals davon gesprochen, sich einen Esel zuzulegen? Warum, war mir schleierhaft. Ich hatte auch nicht nachgefragt. Ich öffne das Mailprogramm: Franziska hat mir geschrieben.

Lieber Dani, ich kann mir vorstellen, was dich gerade beschäftigt. Mach dir wegen unseres gestrigen Abends nicht so viele Gedanken. Luisa hat mich heute ganz süffisant gefragt, wer während deiner Abwesenheit die Leitung der Agentur innehat. Ich habe sie freundlich, aber bestimmt gefragt, was sich denn plötzlich geändert haben sollte. Da hat sie sich abgewendet und war wieder ganz die alte Luisa. Ich würde gern einiges klarstellen, wenn es dir recht ist.

Alles Liebe, deine Franziska.

Ich werde um eine Klärung nicht herumkommen. Das ist mir mehr als unangenehm. Katharina hat längst gespürt, dass ich nicht mehr bei ihr bin. Gewitter reinigen die Luft, sagt der Volksmund. Der Zug hält. Ich steige aus, nehme ein Taxi und lasse mich zur Seepromenade bringen. Vor einem weißen Bungalow, der in den sanft abfallenden Hang hineingebaut und mit einer gut zwei Meter hohen Klinkermauer umgeben ist, steige ich aus, gehe an das von einem Alarmsystem mit Kamera gesicherte kleine Tor und drücke auf den Klingelknopf. Das Tor öffnet sich lautlos und gibt den Blick auf den See frei, der etwa 100 Meter unterhalb des Hauses ruhig und grün-schwarz schillernd daliegt. Eine große, schlanke Frau mit halblangen grau-blonden Haaren kommt mir irritiert lächelnd entgegen und begrüßt mich mit dunkler, leicht heiserer Stimme: „Daniel? Ich bin Magdalena Salomon! Wir kennen uns, nicht wahr?“

Ich bin für einen kurzen Augenblick verwirrt, dann weiß ich plötzlich, worauf sie anspielt und lächle unsicher: „Lang ist es her. Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen. Wieso haben wir uns eigentlich aus den Augen verloren?“