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Jazzmesse. Fortsetzungsroman (2)

Frühmesse (2)

Eilig schlüpft Bertram in die Schuhe und stürmt, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter in die Küche, wo ihn die Mutter ungeduldig mit missbilligendem Blick erwartet.

Noch bevor er ins Bad geht, setzt er sich an den Küchentisch und sagt laut: „Guten Morgen“, schenkt sich, ohne den Gruß des Vaters abzuwarten, eine große Tasse Kaffee ein, gießt Milch hinzu, nimmt drei hoch gehäufte Löffel Zucker und rührt um. Gedankenverloren führt er die heiße Tasse an die Lippen, um einen Schluck des süßen Gesöffs zu nehmen, da wird er jäh von der Mutter unerbrochen. „Wolltest du nicht zur Kommunion gehen?“ Der Vorwurf in ihrer Stimme ist unüberhörbar.

„Doch, ja. Warum?




„Warum? Warum?“, keift die Mutter. „Weil du nichts trinken darfst. Unser Herr Jesus will nüchtern empfangen werden.“

Missmutig und mit steinerner Miene nimmt sie ihrem verdatterten Sohn die Tasse aus der Hand, schüttet den Kaffee in den Ausguss und verlässt wortlos die Küche.

Betreten starrt ihr Bertram hinterher, erhebt sich langsam und geht schlurfend und laut gähnend ins Badezimmer.

Während er sich die Zähne putzt, fällt ihm Vroni ein, mit der er gestern auf der Party bei Richard Dehlko war. Immer nach dem Zähneputzen haucht er gegen den Spiegel, um zu kontrollieren, ob er vielleicht Mundgeruch habe. Halitosis, wie der Mediziner sagt, ist für ihn so ziemlich das Ekelhafteste, was er sich vorstellen kann. Und während er zufrieden seinen frischen Atem schnuppert, denkt er an Vroni und ihren leicht säuerlichen Atem, der ihm gestern auf der Party untergärig in die Nase gezogen war und ihm das Küssen unmöglich gemacht hatte. Angewidert hatte er seinen Mund geschlossen und ihr lediglich einen Kuss auf den Hals gedrückt.

Doch Vroni hatte anscheinend gar nicht kapiert, warum er sich von ihr abgewendet und mit Agnes zu flirten begonnen hatte. Überdies benahm sich Vroni in letzter Zeit häufig so, als sei er mit ihr verheiratet. Am letzten Donnerstag zum Beispiel, nach der Leiterrunde der katholischen Jugend, als der Führungskreis noch in der Gemeindebücherei zusammen saß und man sich rauchend Witze erzählte, hatte sie ihn vor der gesamten Gruppe ziemlich blöd angeredet. Er spürte, dass er ganz rot geworden war, worüber er sich sehr geärgert hatte.

Bertram grinst spöttisch, als er daran denkt, wie sie neulich im Kino, als sie sich den neuen Western mit Clint Eastwood Für eine Handvoll Dollar angesehen hatten, ihre Brüste an ihn gedrückt und den Arm um seinen Hals gelegt hatte. Und er hatte ihr seine feuchten Lippen auf den Mund gepresst, hatte vorsichtig unter ihren Rock gegriffen und sie am Knie und Oberschenkel zu streicheln versucht.

Bertram trocknet sich ab, kämmt sorgfältig die halblangen Haare und schlürft müde den Flur entlang, schnappt sich die grüne Windjacke und verlässt grußlos die Wohnung.

 

Wie jeden Tag um diese Zeit läuten die Kirchenglocken. Es regnet mittlerweile ziemlich stark, was ihm aber gar nicht auffällt, zumindest stört es ihn nicht. Mit langen Schritten eilt er die Waldrandstraße entlang, biegt rechts in die Hofmeisterstraße ein, überquert den Fußballplatz, läuft über die Krennstraße und bleibt – ganz außer Atem – an den Stufen der Kirche, die dem heiligen Georg geweiht ist, stehen.

„Warum muss ich während der Woche den Gottesdienst besuchen? Dabei hätte ich heute ausschlafen können, wo doch die erste Stunde ausfällt. Ich hasse diese Frühmesse. Ich hasse die alten Weiber, die um diese Zeit in der Kirche sitzen. Ich hasse Pfarrer Bauer, ich hasse Mutter und ihren Kirchendrill.“

Erschrocken blickt er hinter sich, ob vielleicht jemand sein Selbstgespräch gehört habe.

„Osténde, Domine, misericórdiam tuam“, betet Pfarrer Bauer, und die alten Frauen in der Kirche antworten zusammen mit den Ministranten: „Et salutare tuum da nobis.“

Still setzt sich Bertram in eine der hinteren Bänke der Kirche, die nahezu leer ist, und schaut aufmerksam Pfarrer Julius Bauer und den beiden Ministranten zu, wie sie die Stufen zum Altar hinaufstolpern und allerlei geheimnisvoll anmutende Handlungen verrichten. Dann beginnt der Priester mit der heiligen Zeremonie. Da fällt ihm sein Traum wieder ein, und er muss sich zusammennehmen, um nicht laut herauszuprusten.

Warum war eigentlich Dietlinde gestern weinend aus dem Wohnzimmer gekommen? Dietlinde lebt und arbeitet seit zwei Jahren als Haushaltshilfe im Haus seiner Eltern. War Heinrich in letzter Zeit nicht auffällig oft mit ihr unterwegs? Außer Bertram hat dies aber anscheinend niemand in der Familie bemerkt. Als er vor Kurzem von der Gruppenstunde früher als sonst nach Hause gekommen war und auf sein Zimmer gehen wollte, war die Tür abgeschlossen. Während er noch unentschlossen davorstand, hatte er Geräusche im Zimmer gehört. Da hatte er an die Tür geklopft. Tatsächlich hatte sich doch der große Bruder in das gemeinsame Zimmer eingeschlossen! Wütend hatte Heinrich durch die Tür gezischt, Bertram solle mit dem Lärm aufhören und sich gefälligst zum Teufel scheren. Bertram war so verblüfft, dass ihm keine Erwiderung eingefallen war, obwohl er in den allermeisten Fällen gerade gegenüber seinem großen Bruder das letzte Wort behielt. Irgendwie beschlich ihn ein komisches Gefühl. Dann hatte er sich leise umgedreht und sich, ohne das Licht anzuknipsen, auf den obersten Treppenabsatz gesetzt. Es hatte nicht lang gedauert, da wurde der Schlüssel leise im Schloss gedreht, und zu Bertrams großer Überraschung war Dietlinde aus dem Zimmer gekommen. Es war ihr sichtlich peinlich, als sie Bertram im dunklen Flur auf der Treppe sitzen sah. Sie hatte sich aber sogleich wieder gefangen und ihn leise weinerlich gebeten, er möge in Gottes Namen niemandem erzählen, dass sie mit Heinrich im Bett gewesen sei. Dabei hatte er gar nicht daran gedacht, dass sie miteinander geschlafen haben könnten.

„Sanctorum communionem, remissionem peccatorum, carnis resurrectionem, vitam aeternam. Amen“, betet der Zelebrant. Die Gemeinde ist beim Apostolischen Glaubensbekenntnis.

 

Josch 29.01.2017, 16.53

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