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Jazzmesse. Fortsetzungsroman (8)

Frühmesse (8)

Die Nähe zu Tschechien und die seit Jahrzehnten wirtschaftlich und politisch vernachlässigte Region bewirkten eine sonderbare Starrköpfigkeit und eine eiserne Lernunwilligkeit ihrer Bewohner. Endlich gab es einen Menschen, der ihnen sagte, wo es langging. Endlich hatte ihre Jahrhunderte lange innere Zerrissenheit ein Ende. Endlich hatten sie jemand, zu dem sie aufblicken konnten, und das war der Landesvorsitzende der CSU, der mit seiner Sprachgewalt, seinem Aussehen und mit seinem Absolutheitsanspruch in ihnen geheimste Wünsche und Allmachtsfantasien erweckte, fast wie vor über 200 Jahren, als Bayern auf der Seite Napoleons stand. Die Treue zu ihren ehemaligen „Besatzern“ zeigt sich jedenfalls bis heute in vielen Ausdrücken ihres Dialekts, die ihren Ursprung im Französischen haben.

Den Schülern der Oberrealschule in der kreisfreien Stadt war dies alles völlig egal. Sie waren weder an Politik interessiert noch waren sie über Parteiprogramme informiert. Ob das nun an Studienrat Strecker lag oder am jeweiligen Elternhaus oder an der einseitigen Propaganda des Steinpfälzer Tagblatts oder am Fernsehen oder gar an der Bildzeitung, darüber verschwendete keiner einen Gedanken, schon gar nicht die Klasse 6 b der Oberrealschule. Das einzige, was die meisten interessierte, waren Mädchen, Partys, Musik, Mopeds und Autos.



Bertram war nun schon seit Wochen nahezu ausschließlich mit seiner Rolle als Klothilde in Robart und Radegund beschäftigt, einem Ritterstück, das von fünf jungen Männern gespielt und von Kaplan Joseph Meyer einstudiert wurde. Der geistliche Regisseur war bei den Proben meist hypernervös und brachte die ganze Gruppe völlig durcheinander, vor allem aber die Mädchen, die in anderen Stücken mitspielten und den besagten Bunten Abend mit gestalteten. Einmal verletzte der Geistliche Helga Schuhmacher, die hübsche, sehr gescheite Blondine, mit einem Kommentar so sehr, dass Helga gekränkt den Probensaal verließ und sich in einem Nebenraum in den kirchlichen Bücherei-Katakomben versteckte. Der unsensible Geistliche hatte im Eifer des Gefechts herausgestoßen, zum Theaterspielen bräuchte man vor allem ein gutes Gedächtnis, da seien ein Mini-Rock und blonde Haare die denkbar schlechtesten Voraussetzungen, die eine Schauspielerin mitbringen könne.

Es war schließlich Franz Wienands Verdienst, dass sich Helga herabließ und doch noch weitermachte. Franz war ihr nämlich nachgelaufen, hatte ihr lieb zugeredet, sie zärtlich in den Arm genommen und ihr einen langen Kuss auf den Hals gegeben. Das Gesauge an ihrem Hals hatte schlussendlich den Ausschlag gegeben, zu den Proben zurückzukehren. Jedenfalls reckte sie hinterher ihren Hals demonstrativ und nicht ohne Stolz dem Zuschauerraum entgegen, sodass die ganze Theatergruppe den dunkelroten Knutschfleck auf blasser Haut sehen konnte. Leider hatte niemand aus der Theatergruppe Lust dazu, das Resultat des Trostes durch den schönen Franz zu kommentieren.

Der Regisseur brachte meist alle Stücke durcheinander, die für den Bunten Abend einstudiert wurden, soufflierte ohne Notwendigkeit, sagte das Stichwort entweder konsequent zu früh vor oder in eine zur Interpretation gehörende, vom Schauspieler bewusst gemachte Pause hinein, sodass sich die Spieler nicht mehr konzentrieren konnten und ständig aus dem Konzept kamen. Oder der geistliche Herr mit seinen schwulstigen Lippen widersprach seinen eigenen Regieanweisungen, fing von Adam und Eva an, wenn er die Beziehung zwischen Mann und Frau in einem Stück interpretieren wollte, notierte ständig neue Einfälle, die er für die kleinen Stücke hatte, lachte sich dabei halb tot, wiederholte dann lediglich die Szenen, bei denen er immer wieder herzhaft lachen konnte, kratzte sich mit der linken Hand auf der rechten Schädelseite, fuhr sich mit den Fingern durchs Gesicht, ließ das Regiebuch fallen, fiel beim Bücken, um es aufzuheben, über einen Stuhl, warf dabei die Sachen, die darauf lagen, auf den Boden, stand auf und nahm das nächstbeste Textheft, das er sah, um mit der Probe fortzufahren.

Oft bemerkte er selbst nach einer halben Stunde nicht, dass er mit dem falschen Textheft arbeitete, wodurch er immer Regieanweisungen gab, die zu dem gerade geprobten Stück überhaupt nicht passten. Dazu kam, dass die an der jeweiligen Szene nicht beteiligten Schauspieler Bier tranken, Karten droschen und damit die Akteure, die zur gleichen Zeit vorn auf der Bühne probten, derart störten, dass nach einer Stunde Probe keiner der Anwesenden mehr zu wissen schien, was eigentlich der Grund der Zusammenkunft war.

Neben Bertram und dem Regisseur setzte sich aber letztlich keiner mit den Stücken wirklich auseinander. Den meisten ging es lediglich um die höllische Gaudi, die man beim Theaterspielen haben würde. Vor allem konnten die jungen Herren mit den Mädchen zusammen sein und sich wenigstens für kurze Zeit den permanenten Anwürfen der Eltern entziehen.

Bertram jedenfalls war bei den Proben in der Form seines Lebens. Er war, wenn es ums Theaterspielen ging, ungewohnt ernst, ja sogar reflektiert, und er spürte ganz instinktiv, dass ihm die Welt des Theaters die einzige Möglichkeit bot, sich von den anderen abzugrenzen und sich darüber hinaus die Bestätigung zu holen, die er für sein nur mäßig entwickeltes Selbstbewusstsein so dringend brauchte. Er träumte davon, wie ihm die ganze Pfarrgemeinde mitsamt dem Pfarrer und den Lehrern nach der Aufführung huldigend zu Füßen liegen würde.

Sein penetrantes Nachfragen, wie er die Rolle denn anlegen solle, brachte den Regisseur zur Weißglut. Er wollte wissen, ob er von links oder vielleicht besser von halblinks auftreten, ob er vor der Frage Sind nicht sehenswert wir beide? nun eine kleine Pause machen solle oder nicht. Ob er nicht übertrieben einatmen und die Luft anhalten solle, bevor er zu sprechen beginne und ob es nicht besser wäre, wenn er als Frau die Stimme verstellen und sie krächzend anlegen würde. Und da vom Regisseur keine Reaktion kam und dieser nur resigniert die Schultern hob und wieder fallen ließ, stellte sich Bertram vor ihn hin und forderte ihn mit leicht beleidigtem Unterton auf, er möge ihm doch zeigen, wie er sich als Frau bewegen müsse, ob er die linke Hand in der Szene, in der die Tochter auf die Knie sinke, vor die Brust pressen oder ob er sie vielleicht ausstrecken solle.

Ein anderes Mal kam er in die Theaterprobe mit einer ganzen Liste an Fragen, die er sich auf einem Blatt Papier notiert hatte und die er mit dem Kaplan diskutieren wollte. Damit er die Rolle der Klothilde publikumswirksam spielen könne, so argumentierte er, müsste er genau wissen, in welcher Zeit das Stück spiele, wie alt die Ritterfrau Klothilde, wie alt der Ritter Kunibert und wie alt deren Tochter Radegund sei, da dies aus dem Text ja leider nicht hervorgehe.

Dann wollte er wissen, wie sich die beiden Eheleute kennengelernt hatten, aus welchem Land sie stammten, in welcher Region das Stück spiele, wer der Souverän des Landes sei, wie viele Untergebene zu der Ritterfamilie gehörten, ob sie mehr männliche oder vorwiegend weibliche Bedienstete hätten, wie viele Ländereien sie besäßen und so weiter und so fort. Dieser ganze soziale Hintergrund gehöre zum Rollenstudium und sei Voraussetzung für ihn als Schauspieler, damit er die Rolle zu seiner und zur Zufriedenheit der Zuschauer glaubwürdig verkörpern könne, das jedenfalls habe er in einem Buch von Bert Brecht und in einem Artikel eines gewissen Jewgeni Wachtangow in der Zeitschrift Theater der Zeit gelesen.

Josch 15.04.2017, 16.30

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