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Ausgewählter Beitrag

Unser autobiografisches Gedächtnis

Bilder, Gerüche und Musik, die Erinnerungen wecken

Es gibt Orte, Situationen, Begegnungen und sinnliche Erfahrungen, die Jahre später immer noch eine geheimnisvolle Kraft haben und starke Gefühle auslösen. Manche Menschen sprechen von Kraftorten mit magisch-mystischer Wirkung, was immer das bedeuten mag. Zweifelsohne sind manche Kirchen nicht zufällig an Stellen erbaut, an denen bereits die Kelten Kultstätten angelegt hatten. Ob diesem Ort aber auch heute noch eine geheimnisvolle Kraft innewohnt, liegt meines Erachtens an mir selbst, an meiner Einstellung, meinen Gefühlen, die ich mit diesem Ort verbinde.

Ein solcher Ort ist für mich zum Beispiel der Petersberg im Landkreis Dachau und die romanische Basilika, die eine der bedeutendsten romanischen Kirchen Altbayerns ist. Ich kam als Siebzehnjähriger erstmals auf den Petersberg zu einer Spielwerkwoche. Die Anreise mit dem Zug dauerte für mich über vier Stunden. Dementsprechend beeindruckt war ich dann von der gesamten Anlage, die wie geschaffen ist, ruhig zu werden, sich ganz auf diesen Ort und mich zu konzentrieren und sich auf das, was dort geschieht, einzulassen.



Ein Ort, an dem alles von mir abfällt

Heute wohne ich nicht weit weg vom Petersberg. Daher ist es verständlich, dass ich der Basilika und dem Kraftort um die Kirche herum immer wieder einmal einen Besuch abstatte. Wenn ich auf einer Bank in der Nähe der Kirche sitze oder auf den Skulpturenweg mit dem Thema „Mit Leidenschaft Mensch sein“ entlanggehe oder – meistens völlig allein – in der Basilika sitze, dann sind all die Bilder und Erlebnisse von damals wieder vor meinem geistigen Auge. Nicht selten überkommt mich dann auch eine gewisse Wehmut, wenn ich daran denke, welche Fantasien und Pläne, welchen Enthusiasmus und welche Hoffnungen dieser Ort, der Kurs und die Menschen, die mit mir zusammen diesen Lehrgang gemacht haben, in mir ausgelöst haben. Ich denke an den Leiter des Kurses, der schon seit einem halben Menschenleben nicht mehr unter uns weilt, an seine wunderbar-einfühlende, kraftvolle Art, wie er den Kurs leitete, in dem die große Gruppe innerhalb einer Woche zwei Theaterstücke einstudiert und nach sieben Tagen, am Ende des Kurses, aufgeführt hat.

Es war eine Woche voller Anstrengung und Arbeit, durchzogen von Kämpfen und Selbstzweifeln, aber auch von Höhepunkten und der wunderbaren Erfahrung am Ende, alles geschafft zu haben. Es war, als verdichte sich das ganze Leben auf diese sieben Tage. All das steigt wieder in mir hoch, wenn ich da sitze und den Ort und die Basilika auf mich wirken lasse.


The merchant of venice

Es gibt auch andere Anlässe und Erfahrungen, die in mir seit über 40 Jahren nachwirken: Ich war mit einer Freundin in Stratford-upon-Avon. Wir besuchten eine Aufführung von „The merchant of venice“ und saßen ziemlich weit vorn im Theater, waren gewissermaßen „mitten“ im Geschehen. Bei der Auseinandersetzung zwischen Antonio, dem reichen Kaufmann, und Shylock, dem Juden, dem Antonio ein Stück Fleisch aus seinem Körper verpfändet hat, spuckt Antonio Shylock mitten ins Gesicht, sodass Shylock die Spucke über die Wange herunterläuft und auf seinen Wams tropft. Shylock erträgt diese Demütigung mit stoischer Ruhe. Ich hielt bei dieser Szene den Atem an und konnte es einfach nicht  fassen, mit welcher Hingabe sie gespielt wurde. Ich hatte so etwas vorher noch nie gesehen. Es war für mich schlimmer, als wenn Antonio Shylock ins Gesicht geschlagen hätte. Wenn ich an diese Szene denke, dann löst sie noch heute bei mir die gleichen Gefühl wie damals aus. Unglaublich.

Auch Musik hat so eine Kraft, was sicher jeder kennt. Da wird ein Song aus den 1960er-Jahren gespielt, und sofort erinnere ich mich an eine ganz bestimmte Situation, an ein Erlebnis aus der damaligen Zeit: Beispiel Eddie Cochran und sein „Summertime Blues“. Wenn ich das Stück höre, dann sehe ich mich mit meinem Freund Richy auf dem Heimweg von einem Badesee in meiner Heimat. Wir gehen zu Fuß durch eine bäuerliche Landschaft. Richy hat sein Transistorradio dabei, das er dicht neben sein Ohr hält. Es ist Freitagabend gegen 19:00 Uhr. In der Hitparade „Die Zwölf der Woche“ wird gerade der „Summertime Blues“ gespielt. Wir bewegen uns im Rhythmus des Blues auf dem staubigen Feldweg und sind von der Nummer ganz hingerissen. Aber auch Hits von den Rolling Stones wie zum Beispiel „Time ist on my side“ oder die ziemlich schnulzige Nummer „Unchained Melody“ von den Righteous Brothers lösen in mir tiefe Gefühle aus. Sie beziehen sich vor allem auf Mädchen, mit denen ich bei dieser Musik getanzt habe oder mit denen ich gerade „zusammen“ war. Musik hat eine unglaubliche Macht, Erinnerungen in uns auszulösen. Das stelle ich immer wieder fest, wenn ich bestimmte Stücke höre, und zwar ohne dass ich diese Erinnerungen mit der Musik bewusst herbeiführen würde. 


Auch Düfte wecken Erinnerungen 

Ähnlich starke Wirkung haben nur noch Gerüche. Sie scheinen sich in unserem Hirn so breit eingenistet zu haben, dass wir sie sofort wiedererkennen und sie mit bestimmten Erlebnissen und Erfahrungen verbinden. Nicht umsonst war der Roman „Das Parfüm“ von Patrick Süskind so erfolgreich. Hoch interessant auch das Buch „Pesthauch und Blütenduft“ von Alain Corbin.

Ich habe vor Kurzem in einer kleinen Gruppe von neun Menschen die Alpen überquert. Wir gingen durch Wiesen und Berghänge. Auf einigen Wiesen wurde gerade Heu gemacht. Und der Geruch dieses Heus – das es bei uns in dieser Vielfalt wegen der vielen Spritzmittel, die heute in der Landwirtschaft verwendet werden, nicht mehr gibt – dieser Duft erinnert mich sehr stark an den Geruch von Heu in meiner Kindheit und Jugend, wenn ich bei meiner Tante die Sommerferien auf ihrem kleinen Bauernhof verbracht habe. Die Erinnerung daran löst bei mir richtiggehend Glücksgefühle aus, weil ich damit Unbeschwertheit verbinde. Wenn ich bei meiner Tante war, musste ich nicht lernen, es gab keinen Termindruck, ich war frei. Diese Erinnerungen werden vom Duft des Heus bei mir ausgelöst. Ganz intensiv habe ich das übrigens vor einigen Wochen in einem Heu-Dampf-Bad erlebt. Auch dort wurde offenbar so ein kostbares, artenreiches Heu für das Dampfbad verwendet. Ich hätte am liebsten das Dampfbad gar nicht mehr verlassen.

Einfach wunderbar, diese Gefühle, die sich aufgrund unserer sinnlichen Erfahrungen unauslöschlich in unser Gedächtnis eingebrannt haben und einen großen Teil unserer Identität ausmachen. Die Psychologie nennt dies „Autobiografisches Gedächtnis“. Eine abstrakte Definition für ein höchst emotionales Geschehen.

© Abbildung: Fotolia, Lightfield Studios

Josch 02.09.2018, 09.53

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