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Vom Plot zum Konzept eines Romans

Ich schreibe schon seit sehr sehr langer Zeit an einem Roman, und ich befürchte, dass ich ihn nie zu Ende bringen werde. Dabei ist mir dieser Text sehr wichtig. Inhaltlich geht es um die 1960er-Jahre in der bayerischen Provinz, in der das Leben von der katholischen Kirche, dem Verdrängen der Nazigräuel, einer verklemmten Sexualität und einem rigorosen Willen zum Wohlstand geprägt war.

Viele denken heute an Hippies, an Haschisch und Marihuana, an freie Sexualität, wenn sie von den 1960er-Jahren hören. Aber dass es eine Zeit vor 1968 gab, dass es danach noch Jahre dauerte, bis die Befreiung auch in der Provinz zu spüren war, das scheinen viele zu übersehen. Wie viele Menschen gingen an dieser engen Welt zugrunde? Wie viele kranken heute noch an dieser (damals) verlogenen, menschenverachtenden Gesellschaft? Manchen, vorwiegend älteren Menschen, ist es offensichtlich gar nicht bewusst, dass die ängstlich-verengte Sicht auf die Welt ihren Ursprung in den 1960er-Jahren hat.

Ja, mit diesem Text komme ich einfach nicht weiter. Wie groß meine Frustration oft ist und wie sehr ich darunter leide, dass ich diesen Text nicht abschließen kann, ist unbeschreiblich. Manchmal schreibe ich zwei, drei Monate keine Zeile an dem Roman. Und dann beginne ich damit, mich erneut in die Welt einzuleben. Ich lese den Text von Anfang an, studiere, recherchiere, lese, schreibe daran weiter und fühle mich dabei zunehmend freier. Und jedes Mal bin ich dann hinterher froh, dass ich doch wieder an diesem Text gearbeit habe. Manchmal habe ich das Gefühl, ich schreibe den Roman nur für mich. Dann wieder überkommt mich ein Gefühl grenzenloser Unsicherheit, und ich schicke einzelne Kapitel an Bekannte und Freunde und kann gar nicht erwarten, endlich Feedback zu bekommen.

Die Idee zu "Déjà-vu in Estaing"

Manchmal schreibe ich eine Szene, über die ich herzlich lachen muss, dann wieder etwas, das mich beim Schreiben bereits traurig macht. Ähnlich wie es einst Max Reinhardt mit dem Theater machte, wenn er für sich Szenen einstudierte, damit er immer wieder lachen oder weinen konnte, wenn er sich später das Stück ansah (vgl. Gusti Adler: Aber vergessen Sie nicht die chinesischen Nachtigallen). Als ich wieder einmal mit meinem Latein am Ende war und ich an einer Stelle herumbastelte, bei der es um ein Mädchen geht, das mit 18 Jahren ein Kind bekommt und deswegen kurz vor dem Abitur von der Schule abgehen muss, als ich mich beim Schreiben mit „meiner Figur“ abmühte, kam mir die Idee zu „Déjà-vu in Estaing“. Zuerst schob ich den Gedanken zur Seite. Schreib doch erst mal die „Jazzmesse“ - wie ich diesen Roman nenne - zu Ende, so flüsterte es in mir, dann kannst du mit etwas Neuem beginnen. Aber die Idee ließ mich nicht mehr los.

Die "Quellen" des Romans

Also setzte ich mich hin und überlegte mir, worum es in so einem Roman gehen könnte. Inspiriert von Träumen, die ich seit 1982 in steter Regelmäßigkeit notiere, von Tagebüchern, von interessanten Zeitungsnotizen, die ich in einem Korb ablege, von Büchern, die ich in den 1990er-Jahren gelesen und von denen ich Inhaltsangaben verfasst habe, von frühen Urlaubsreisen nach Frankreich begann ich eine Rahmenhandlung zu skizzieren, was relativ schnell ging. Ich tauchte noch einmal ein in meine Gefühle, die ich als 17-/18-Jähriger hatte, als ich zum ersten Mal unsterblich in ein Mädchen verliebt war. Ich spielte bei der Entwicklung des Plots verschiedene Möglichkeiten dieser ersten großen Liebe durch und reicherte das Thema mit Erfahrungen meines späteren Berufslebens an.

Festlegen des Point-of-View

Bei der Ausdifferenzierung des Plots überlegte ich mir, welche Erzähltypologie für den Inhalt des Romans am besten wäre, und ich entschied mich für einen Ich-Erzähler, wenngleich dieser Typ problematischer ist als zum Beispiel ein auktorialer oder personaler Erzähler. Aber für den Gegenwartsbezug der Handlung schien mir diese Erzählform besser geeignet zu sein. Auch gewinnt der Text damit eine stärkere Unmittelbarkeit, Authentizität, wie man heute gerne sagt.

Figurenarsenal entwickeln

Nun kam der nächste entscheidende Schritt, nämlich die Entwicklung der Figuren des Romans. Der Charakterisierung der Figuren, ich nenne es das Biografieren des Figurenarsenals, widme ich viel Zeit. Die Figuren entwickeln sich zwar beim Schreiben weiter, oft kommen Eigenschaften hinzu, manche werden vernachlässigt oder fallen weg, wie es sich im Verlauf der Geschichte eben ergibt. Aber das Grundgerüst muss stehen. Ich lege einer Figur meist eine mir bekannte Person zugrunde. Dies betrifft Aussehen, Alter, Haarfarbe, Augenfarbe, Figur, Stimme, Sprache, Größe, Bildung, soziale Herkunft, besondere Eigenschaften und Vorlieben, Beruf, Familienstand, Hobbys, einfach alles, was ich von der betreffenden Person weiß. Ich modifiziere diese Eigenschaften und vermische sie mit Charakteristika anderer Personen, die ich kenne. Dies können auch Menschen sein, die ich nur aus dem Fernsehen, aus Filmen, aus der Politik, aus den Medien kenne. Und so entsteht eine neue Figur, die beim Schreiben ganz konkret vor meinem geistigen Auge steht.

Ist der erste Biografieentwurf formuliert, lasse ich ihn einige Tage liegen, um ihn später noch einmal zu reflektieren. In der Zwischenzeit beginne ich jedoch bereits am eigentlichen Text zu schreiben, auch wenn der Plot noch manches Desiderat aufweist.

Nach den ersten fertigen Kapiteln oder Abschnitten skizziere ich die weiteren Handlungsstränge und lege fest, wie diese weitergeführt werden. Es ist also ein ständiges Verändern und Weiterentwickeln des ursprünglichen Plots. Oft gliedere ich stichpunktartig wie bei einem Aufsatz, einem Referat das jeweilige Kapitel und teile es in kleinere Schritte ein. Ich schreibe so gut wie nie ins Blaue. Oft habe ich Schwierigkeiten, das, was ich mir vorstelle, in Worte zu fassen. Manchmal trage ich ein Problem tagelang mit mir herum, bis plötzlich ein Geistesblitz einschlägt, dann setze ich mich hin und schreibe mir das Kapitel von der Seele.

Im nächsten Beitrag will ich ein paar Selbstaussagen bedeutender Schriftsteller zum Schaffensprozess vorstellen, von denen ich glaube, dass sie auch uns beim Schreiben weiterhelfen können.

Josch 29.03.2016, 16.36

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