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Die Wahrheit ist

Wie Dichtung Wahrheit wird

Ein Online-Magazin schickt einem erfolgreichen Schriftsteller einen Fragenkatalog. Dem Schriftsteller kommt das im Augenblick sehr gelegen, denn er hat seit Längerem mit einer massiven Schreibblockade zu kämpfen. Und so nimmt er sich lange Zeit und beantwortet die Fragen aus seiner Sicht "wahrheitsgemäß". Auf diese Weise entsteht ein vielschichtiger Roman, der den unbefangenen Leser gründlich verunsichert. Zentrales Thema des Romans ist die Wahrheit, die aus der subjektiven Perspektive des Schriftsteller allerdings nicht immer das ist, was sie objektiv sein sollte: "Wahrheit ist das Wahre, der richtige Sachverhalt, die Übereinstimmung mit den Tatsachen", wie es im Deutschen Wörterbuch heißt. Wahrheit ist oft sehr subjektiv.



Der Weg zur Selbsterkenntnis

Das Leben des Schriftstellers ist gründlich durcheinander geraten: die Ehe steht vor dem Aus, die älteste Tochter redet nicht mehr mit ihm, sein bester Freund liegt im Sterben. Und er weiß oft selbst nicht, ob das, was er sagt, der Wahrheit entspricht oder ob es Teil seines fiktionalen Schaffens ist. Seine älteste Tochter zum Beispiel hat sich von ihm distanziert, weil er Dinge aus ihrem Privatleben in einem Buch verarbeitet hat, ohne sie um Erlaubnis zu fragen. Auch wenn er, wie er sich rechtfertigend behauptet, genug Verfremdungen in den Text eingebaut hat, damit niemand darauf kommt. Für die Tochter jedoch ist das ein massiver Vertrauensbruch.

Und seine Frau, mit der er seit zwanzig Jahren zusammen ist, hält es nicht mehr aus, dass sie nicht mehr unterscheiden kann, ob er das wirklich ist oder ob er es nur erfunden hat. Genau das ist jedoch eine zentrale Frage jeder Kommunikation, jeder Sicht der Dinge: Wie viel von dem, was ich sage, ist wahr, und wie viel davon ist erfunden? Wie viel ist Ausschmückung oder schöner Zusatz? Was wurde weggelassen, weil es an dieser Stelle nicht so gut passt? Alles aus der Sicht des Erzählers. So wird ein Text, der in seinen Grundzügen wahr sein mag, zur Fiktion.


Schluss mit den Lebenslügen

Und andererseits: Ist Fiktion nicht wahr? Ist ein Roman nur schön erfunden und daher unbedeutend, nichtssagend, ist er eine Lüge? Auch eine erfundene Geschichte kann wahr sein. So einfach ist es nicht mit der Wahrheit. Was wahr ist, lässt sich belegen, beweisen, hält Widerspruch stand. Wahrheit lässt sich nicht verbiegen. Die Wahrheit kann hart sein, unbequem, ist oft ungeschminkt. All das, womit der Schriftsteller in seinem Leben zu kämpfen hat. An mancher Lüge ist ein Körnchen Wahrheit. Wir tun uns oft schwer, einem Menschen die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern. Das verbietet die Höflichkeit oder die Menschlichkeit. Man hält die Wahrheit manchmal zurück und sagt nicht alles, so wie Dikla, die Ehefrau des Schriftstellers, die vermutlich ein Date mit einem anderen Mann verschweigt, um ihrem Ehemann nicht wehzutun.

An einer Stelle sagt der Schriftsteller zu einem Freund: "Ich gebe das Schreiben auf (...) Es macht mich nicht mehr glücklich (...) Ich bin ein Lügner geworden, sage ich, ein zwanghafter Geschichtenerzähler. Und ein Kannibale. Alles, was mir passiert, ist Stoff. Selbst als Dikla gesagt hat, ich verlasse dich, nicht, weil ich dich nicht mehr liebe, sondern weil ich dir kein Wort mehr glaube – selbst da habe ich gedacht, das ist ein starker Satz, den muss ich in irgendeine Geschichte einbauen ..."

Der Schriftsteller leidet das ganze Buch hindurch unter einer Dysthymie, der "kleinen Schwester" der Depression, wie er sein Leiden an einer Stelle nennt. Am Ende des Buches, als sich seine Probleme zwar nicht auflösen, aber doch klarer werden, ist auch seine Dysthymie verschwunden.


Fazit

Was den Roman in ganz besonderer Weise wertvoll macht, ist nicht nur die kluge Art, wie der Autor eine der zentralsten Fragen unserer Gegenwart – nämlich: Was ist Wahrheit? –, die von sogenannten Fake-News und Social-Media-Plattformen geprägt ist, reflektiert, sondern auch, welch wunderbare Geschichten er erzählt, so nah und doch so fern. Beim Lesen habe ich mir immer wieder überlegt, dass das Buch auch eine moderne Anleitung zum Schreiben sein könnte. Enthält es doch viele spannende und zutiefst berührende Geschichten, die nahezu alle für sich stehen könnten und doch aufeinander bezogen sind und so ein Gesamt ergeben. Ich würde dem Buch von fünf möglichen Sternen fünf geben.

Eshkol Nevo, geboren 1971 in Jerusalem, gehört heute zu den wichtigsten Schriftstellern seines Landes. Sein erster Roman Vier Häuser und eine Sehnsucht stand 2005 auf der Shortlist des bedeutendsten Literaturpreises in Israel, dem Sapir Preis. Wir haben noch das ganze Leben, sein zweiter Roman, war nicht nur in Israel, sondern auch in Deutschland ein Bestseller. Sein Roman Neuland verkaufte sich in Israel über 130.000-mal und gewann 2012 als Book of the Year den Steimatzky Preis. 2018 erschien, wiederum mit großer Aufmerksamkeit, sein Roman Über uns in Deutschland. Eshkol Nevo lebt mit seiner Frau und seinen drei Töchtern in Ra'anana/Israel.

Eshkol Nevo: Die Wahrheit ist. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. dtv Literatur. München 2020, gebunden mit Schutzumschlag. Bändchen. 430 Seiten. ISBN 978-3-423-28219-2 , 22,00 €

Josch 10.06.2020, 20.31

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Kommentare zu diesem Beitrag

1. von Christel Boßbach

Soviel erfahren und jetzt so neugierig, dass ich den Roman gleich online bestellt habe - natürlich im örtlichen Buchladen mit dem schönen Namen "Einzigundartig".

vom 11.06.2020, 09.09
Antwort von Josch:

Das freut mich ungemein, dass ich dich zum Lesen des Buches animieren konnte. Hoffentlich habe ich nicht zu viel versprochen.
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