Ausgewählter Beitrag
Der außergewöhnliche Fernseh-Zweiteiler "Sturm kommt auf" (ZDF-Mediathek, jeweils 90 Minuten), basiert auf dem Roman "Unruhe um einen Friedfertigen" von Oskar Maria Graf. Protagonist des Romans ist Julius Kraus, ein Schuster im fiktiven oberbayerischen Dorf Lohfing. Der friedliebende Kraus lebt und arbeitet ruhig, unauffällig und zurückgezogen in der Dorfgemeinschaft, in der der "Spaltpilz" Nationalsozialismus bereits kräftig rumort. Kraus jedoch versucht, sich aus dem politischen Geschehen herauszuhalten. Er meidet Dorf-Klatsch und lässt sich von niemand und für nichts vereinnahmen. Kurzum: Er lebt ein bescheidenes, stilles Leben.
BU: In einer nächtlichen Aktion zersägt der alte Heingeiger (Sigi Zimmerschied) mit Unterstützung anderer Dorfbewohner den Fahnenmast und verbrennt die Hakenkreuzfahne (Copyright: ZDF/Fabio Eppensteiner)
Engeren Kontakt hat er lediglich zu Elies Heingeiger und ihrem unehelichen Sohn Peter. Doch die stürmischen Jahre zwischen 1918 und 1933 machen auch vor ihm nicht Halt. Kraus bezeichnet den immer wiederkehrenden Schwindel, die Ungerechtigkeit und die staatliche Willkür als "A-boba".
Das Leben von Julius Kraus verändert sich mit einem Schlag, als sein in Amerika lebender Sohn bei einem Unfall ums Leben kommt und er dadurch eine unerwartete, sehr hohe Erbschaft macht. Nun ist es vorbei mit dem ruhigen Leben. Kraus, der bisher seine jüdische Herkunft gut verbergen konnte und wie ein Katholik in der Dorfgemeinschaft lebte, ist nun für die Nazis ein gefundenes Fressen, zumal mit der Erbschaft seine jüdische Herkunft ans Tageslicht kommt. Als reicher Jude begegnen ihm nun die Schlägertrupps der "Hitlerischen" mit Misstrauen, offener Feindschaft und Gewalt. Und nicht nur vonseiten der katholischen Kirche ist man hinter seinem Geld her. Auch die Schlägertrupps glauben, sich das Geld von Kraus mühelos einverleiben zu können. Doch Julius Kraus vermacht seine gesamte Erbschaft dem Rotgardisten Ludwig, der damit mit seiner Frau und seinen Kindern nach Amerika fliehen kann
"Der Roman zeichnet ein eindringliches Panorama des aufkommenden Faschismus auf dem Land und zeigt, wie ein friedfertiger Einzelner zunehmend in den Strudel politischer und sozialer Konflikte gerät" (Ullstein Verlag).
Kernthemen des Films
Es sind im Wesentlichen drei Kernthemen, die das Aufkommen des Nationalsozialismus begünstigen:
1 Da sind einmal die Heimkehrer und Kriegsveteranen, die sich betrogen und von der neuen Republik im Stich gelassen fühlen.
2 Da ist ferner die wirtschaftliche Not, die Inflation und die Suche nach einfachen Antworten, die zu Spannungen führen und die schließlich
3 Zu den rechtsextremen Gruppierungen führen, die mehr und mehr Unterstützung in der Bevölkerung finden
Als sich Julius Kraus – widerstrebend – für Toleranz und Zusammenhalt ausspricht, gerät er in Konflikt mit lokalen Nationalisten. Erste Gewaltakte, Einschüchterungen und eine spürbare Radikalisierung greifen um sich. Wie aber bleibt man anständig, wenn um einen herum die Menschen immer radikaler werden?
Die politische Lage spitzt sich dramatisch zu
Im Dorf entstehen zwei Lager:
1 Diejenigen, die die Demokratie verteidigen und
2 Jene, die den neuen nationalsozialistischen Kräften folgen.
Julius Kraus wird zunehmend isoliert: Sein friedliches Wesen und sein moralischer Kompass machen ihn zur Zielscheibe. Auch Familienbeziehungen und Freundschaften brechen auseinander, weil Menschen opportunistisch werden – oder aus Angst schweigen.
Menschen werden eingeschüchtert, Gewalt breitet sich aus, Willkür beginnt, das Dorf driftet in Richtung Diktatur. Julius steht als Symbolfigur für denjenigen, der sich nicht mitreißen lassen will – und dafür seinen Preis zahlen muss.
Der Zweiteiler endet mit dem Einsetzen der offenen nationalsozialistischen Herrschaft. Der „Sturm“ ist nun kein Anzeichen mehr – er ist da. Er zeigt, dass die NS-Herrschaft nicht „über Nacht“, sondern schrittweise kam, begünstigt durch Wegschauen, Angst, gewachsene Vorurteile und die Bereitschaft, einfachen Parolen zu folgen.
Damit ist der Zweiteiler hochaktuell
1 Wie schnell kann eine Gesellschaft kippen?
2 Wie verhalten sich Menschen in Krisen – mutig, schweigend, opportunistisch?
3 Was bedeutet Zivilcourage im Alltag?
4 Welche Rolle spielt die Provinz bei politischen Umwälzungen?
Die Figur des Julius steht exemplarisch für alle, die sich bemühen, ehrlich, sozial, empathisch und aufrecht zu bleiben, wenn die Mehrheit kippt.
Was die beiden Filme heraushebt gegenüber vergleichbaren Filmen
Was den Zweiteiler bemerkenswert aus der Vielzahl bayerischer Stoffe heraushebt, das sind das Drehbuch (Hannah Hollinger), die Regie (Matti Geschonneck) und seine Darsteller, allen voran der unvergleichliche Josef Hader in der Hauptrolle, Sigi Zimmerschied, der den Bauern und Bürgermeister Heingeiger darstellt, der allerdings an der einen und anderen Stelle vielleicht etwas weniger grimassieren sollte, da sind ferner Frederic Linkemann, Verena Altenberger und Sebastian Bezzel, um nur einige der wunderbaren Schauspielerinnen und Schauspieler zu nennen.
Was mich bei den beiden Filmen in ganz besonderer Weise fasziniert hat, war die poetische, ruhige Bildführung, die den Blick auf das Wesentliche lenkt und den Betrachter in das Geschehen hineinzieht und dessen Bilder einem noch tagelang immer wieder vor das innere Auge treten.
Oskar Maria Graf, der den Roman "Unruhe um einen Friedfertigen" 1947 in New York geschrieben hat, muss man lesen, wenn man Bayerische Geschichte und die Menschen – auch heute noch – verstehen will. Sein umfangreiches Werk mit Romanen wie "Wir sind Gefangene", "Das Leben meiner Mutter", "Die Ehe des Herrn Bolwieser" (übrigens von Rainer Werner Fassbinder verfilmt), "Der harte Handel", "Die Chronik von Flechting", "Die gezählten Jahre" und seine "Dorfgeschichten" und "Kalendergeschichten" sowie "Das bayerische Dekameron" u.a. zeigt einen aufrichtigen bayerischen Literaten, gleichermaßen von Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Maxim Gorki, Heinrich Mann und Romain Rolland gelobt und geschätzt. Graf war einer der bedeutendsten antifaschistischen Schriftsteller seiner Zeit. Die "Chronik von Flechting", vor allem aber sein Roman "Unruhe um einen Friedfertigen" ist heute so aktuell wie in der Zeit, in der der Riman spielt. Es ist dem ZDF nicht genug zu danken für diese großartigen Filme.
Josch 24.11.2025, 15.26
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