Ausgewählter Beitrag
Gespräche mit meinem damals fast fünfjährigen Sohn
Es ist ein herrlicher Spätherbsttag. Meine Frau gibt mir zu verstehen, dass sie wieder einmal ganz gern allein wäre. Ich könnte doch mit unserem Sohn zum Spielplatz gehen, schlägt sie vor. Also packen wir ein paar Spielsachen, zwei Bananen und eine Flasche Apfelschorle in den Rucksack und gehen los. Wir sind noch keine zwei Minuten unterwegs, da sagt mein Sohn, dass er heute nicht auf den Spielplatz gehen möchte. Er will lieber ein wenig spazieren gehen.
„Und wo sollen wir hingehen?“ will ich wissen.
„Vielleicht
auf den Friedhof“, schlägt er vor und macht sich sogleich auf den Weg. Da wir schon
öfter über den Friedhof gegangen sind, kennt er auch den Weg dorthin. Ich weiß
zwar nicht so recht, was ihn heute zum Friedhof treibt, vermute aber, dass es einige
Gräber, die Ruhe und die hohen Bäume sind, die es ihm angetan haben.
Auf dem Friedhof angekommen, geht mein Sohn zielstrebig in Richtung eines ganz bestimmten Grabmals, das die Form eines fast zwei Meter hohen Halbmondes hat und das wir vor einigen Wochen schon einmal betrachtet haben. Auf dem Fuß des Mondes sitzt ein Engel aus weißem Marmor.
Auf einer kleinen Marmorplatte sind mit vergoldeten Eisenlettern der Name der toten Frau sowie ihre Geburts- und Sterbedaten angebracht. Daneben ist ein kleines, medaillonartiges Bild der sehr jung verstorbenen Frau in den Stein eingelassen.Mein Sohn steht nachdenklich und andächtig vor dem Grabmal. Dann fragt er, ohne den Blick von dem Engel zu wenden: „Sehen alle Engel so aus, wie der da auf dem Mond?“
„Das weiß ich nicht. Eigentlich weiß kein Mensch, wie Engel aussehen, weil noch niemand einen Engel gesehen hat.“
„Du hast einmal gesagt, dass es keine Engel gibt“, wendet er ein.
„Das stimmt. Jedenfalls glaube ich nicht an Engel, die aussehen wie dieser da.“
„Aber Du hast schon öfter zu mir mein Engel gesagt.“
Ich muss über seinen Einwand lachen und weiß im ersten Moment gar nicht, was ich darauf sagen soll. „Wenn ich zu einem anderen Menschen sage, dass er ein Engel ist, dann meine ich damit, dass ich ihn sehr mag und dass mir das, was er tut, sehr gut gefällt. Engel meint etwas Gutes, Schönes, etwas, was uns hilft.“
„Kann jeder Mensch ein Engel sein?“, will er nach einigem Nachdenken wissen.
„Im Prinzip schon. Zum Beispiel bezeichnen manche Menschen die Helfer auf der Straße als gelbe Engel, weil sie gelbe Autos fahren. Sie helfen, wenn das Auto unterwegs kaputt geht und nicht mehr fahren kann.
„Und haben alle Engel Flügel?“
"Nein, ich glaube nicht, dass Engel Flügel haben.“
In meinem Sohn arbeitet es. Dann wendet er ein: „Aber wenn noch keiner einen Engel gesehen hat, dann kann man doch gar nicht wissen, ob Engel Flügel haben oder nicht.“
Ich muss über die verblüffende Logik meines Sohnes lächeln: „Da hast Du recht. Das können wir nicht wissen. Viele Menschen glauben, dass Engel unsichtbare Wesen sind, die überall sein können und die keinen Körper haben. Engel sind, so glauben sie, gute Geister. Und häufig erscheinen uns Engel in Gestalt anderer Menschen.“
Mein Sohn geht um den Grabstein herum und schaut sich den Engel auch von der anderen Seite an, dann fragt er mich: „Müssen die Engel auch sterben, so wie wir?“
„Nein, Engel müssen nicht sterben. Wer an Engel glaubt, der weiß, dass Engel von Gott kommen. Sie sind Boten Gottes.“
Mein Sohn fährt mit der Hand über die Flügel des Marmorengels, dann sagt er bestimmt: „Ich glaube, dass die Engel schon Flügel haben, weil sie ja überall hinfliegen müssen. Zu Fuß wären sie viel zu langsam.“
Das kann ich nachvollziehen. Bevor ich aber noch etwas erwidern kann, differenziert er seine Sicht: „Aber es gibt auch Engel ohne Flügel. Ein Engel mit Flügeln kann sich ja nirgends anlehnen. Vielleicht gibt es Engel, die wie wir sind, und Engel, die vom Himmel kommen. Und die haben Flügel. Und wenn sie dann bei uns sind, brauchen sie die Flügel nicht mehr.“
Da mir darauf nichts einfällt, beenden wir unsere Betrachtung über Engel, und wir setzen unseren Spaziergang über den Friedhof fort.
Josch 17.07.2016, 12.29
Wie gut, dass es kleine Kinder gibt...
vom 17.07.2016, 14.59
... und es ist gut, dass aus kleinen Kindern große werden. Die Gespräche mit meinem Sohn fanden ja vor über zehn Jahren statt. Und wir führen immer noch sehr interessante Gespräche miteinander. Selbstverständlich lasse ich die heutigen Gespräche von ihm autorisieren, wenn ich sie veröffentlichen möchte.