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Alltägliche Traumata

Traumatisierende Erfahrungen vor den anderen verbergen? 

Es gibt Erlebnisse, die prägen sich für immer in unser Gedächtnis ein und lassen sich durch nichts mehr ausradieren. Man schließt die Augen, konzentriert sich auf den Moment, und schon läuft der innere Film ab, als habe man auf einen Knopf gedrückt. Meist sind es allerdings nicht die Glücksmomente, die Erlebnisse, die das Herz höher schlagen lassen. Im Gegenteil: Es sind die bedrückenden, die schmerzenden Ereignisse, Situationen, in denen man gerade noch die Kurve bekam. Erlebnisse, die man durchaus als traumatische Erfahrung bezeichnen kann. Unter Trauma versteht die Psychologie eine seelische Verletzung. In der Medizin bezeichnet man eine Verletzung durch einen starken Schlag oder Stoß gegen ein Körperteil als Trauma. Oft heilen die medizinischen Traumata leichter und schneller als die seelischen.



Viele Menschen haben psychische Störungen, ohne zu wissen, dass es sich um ein Trauma handelt. „Traumatisierte Menschen haben oft alle psychische Kraft dazu verwendet, ihre Erfahrungen, Kriegstraumata und sexuelle Gewalterfahrungen, in sich einzukapseln und vor sich und den anderen zu verstecken“, schreiben die Traumatherapeuten Dr. Udo und Dr. Gabriele Baer in ihrem Buch: „Wie Traumata in die nächste Generation wirken.“ In ihrem Therapiezentrum in der Nähe von Neukirchen-Vluyn behandeln sie seit vielen Jahren unter anderem Menschen mit traumatischen Ätiologien.

Gerhard Wolfrum, psychologischer Psychotherapeut in München, behandelt Psychotraumata mit einem jungen und sehr effektiven Traumatherapie-Verfahren, das sich Brainspotting nennt und das von dem New Yorker Psychotherapeuten David Grand entwickelt wurde.

Oft fallen medizinische und psychologische Traumata zusammen, d.h., einem Menschen wird körperliche Gewalt angetan, unter der auch die Psyche leidet. Dies ist zum Beispiel bei Vergewaltigungen, bei Entführungen, bei Kriegserlebnissen der Fall. Aber auch ganz gewöhnliche Verkehrsunfälle, bei denen Menschen verletzt werden, können traumatisch sein. Wer jemals bei einem Unfall verletzt wurde, weiß, wovon ich spreche. Oft kann der Betroffene nicht mit anderen Menschen darüber sprechen. Er versucht, seine Gefühle „einzukapseln“, wie Dr. Baer es bezeichnet.

Traumatisch kann eine Erfahrung auch sein, wenn es zu keinem Unfall und auch zu keiner Verletzung kommt. Ausschlaggebend ist dabei immer das Erleben, d.h., wie der Betroffene das Geschehen erlebt hat.

Bis vor einigen Jahren arbeitete ich in Augsburg, etwa 50 km von meiner Wohnadresse entfernt. Ich fuhr über viele Jahre täglich mit dem Auto zur Arbeit. An einem grau-schwarzen Abend im Herbst nach einem anstrengenden Arbeitstag bin ich wie jeden Tag auf dem Nachhauseweg. Die zweispurige Bundesstraße, auf beiden Seiten von Leitplanken begrenzt, ist wie immer relativ stark befahren. Da kommen mir in einiger Entfernung zwei Lichter auf meiner Fahrspur entgegen. Das Fahrzeug kommt in normaler Geschwindigkeit auf mich zu, und da stelle ich mit Erschrecken fest, dass es ein großer Lastwagen ist. Ich betätige die Lichthupe, doch das Fahrzeug kommt mit ungebremster Geschwindigkeit auf mich zu. Buchstäblich im letzten Moment reiße ich geistesgegenwärtig das Lenkrad nach links und ziehe das Auto auf die linke Fahrspur. Da erst merkt der Fahrer des Lastwagens offenbar, dass er sich auf der falschen Straßenseite befindet. Die anderen Fahrzeuge haben bereits ihre Geschwindigkeit stark reduziert und halten größeren Abstand zu den Fahrzeugen vor ihnen. Der Lastwagen und ich fahren auf der jeweils falschen Fahrspur mit normaler Geschwindigkeit aneinander vorbei. Der Anhänger des Lastwagen schlingert, als würde er jeden Moment in meinen Wagen krachen. Das ganze dauert realiter nur einige Sekunden. Ich habe das Zeitgefühl verloren. Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor.

Nachdem wir uns ausgewichen waren und der LKW und ich uns wieder auf der jeweils rechten Spur befanden, fuhr ich noch einige Hundert Meter und musste dann an der nächsten Abfahrt erst einmal anhalten, um einige Minuten durchzuatmen, mich zu beruhigen. Ich war nur knapp einem furchtbaren Unfall entkommen. Ich bin unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

Noch heute, wenn ich mit dem Auto an der Stelle vorbeikomme, schieben sich die Bilder von damals vor mein inneres Auge, und immer noch spüre ich ein Unbehagen. Ich hatte jedenfalls einen großen Schutzengel, so sagt der Volksmund. Wie mit dem kurzen Moment der Todesangst umgehen, ist allerdings eine andere Frage. Was kann da helfen? Einem Menschen davon erzählen? Trost erfahren? Die Situation noch einmal durchleben? 

Viele Menschen haben ähnliche und weit schlimmere Erfahrungen gemacht, zumal Menschen in Kriegsgebieten. Wer schon einmal dem Tod ins Auge gesehen hat, der weiß, wovon ich spreche.

Wie mag es Menschen gehen, denen weit Schlimmeres widerfuhr, denen man alles genommen hat und die über Monate hinweg tagtäglich wehrlos Angriffen, Schüssen und Bomben ausgesetzt waren? Unsere Seele vergisst nicht, sagen Psychologen. Damit wir uns nicht zu sehr verhärten und ganz vergessen, was einen Menschen zum Menschen macht: Nicht unser Wissen, sondern unser Mitgefühl, unsere Empathie und unsere Fähigkeit, mit dem anderen mitzuleiden und mitzuempfinden, das ist es, was uns zum Menschen macht, viel mehr als alles Wissen und all unsere rationalen Fähigkeiten. Es ist das, was uns und unser Leben im Grunde reich macht.

Bildnachweis: Copyright Fotolia, by-studio

Josch 10.09.2017, 18.16

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