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Déjà-vu in Estaing. Fortsetzungsroman 3

Kapitel 3

Es ist schon spät, als ich meinen Mac herunterfahre. Ich gehe in die Ecke unserer Agenturräume, die wir wegen des Tischkickers, des Espressoautomaten und der alten Jukebox gewollt hip „Funcorner“ nennen, und mache die Lichter aus. Da fällt mein Blick auf das Magazin, das jemand offensichtlich aufmerksam durchgeblättert und ziemlich zerknittert auf den Boden geworfen hat. Ich stecke es in meinen Rucksack, schließe ab und fahre mit dem Aufzug in die Tiefgarage. Im Auto erscheint auf dem Multifunktionsdisplay eine Nachricht von Katharina.



Sie hat den Kindern etwas zum Essen bringen lassen. Sollte ich noch nicht gegessen haben, müsse ich mir etwas besorgen. Warum hat sie mir das nicht schon früher gesagt? Warum hat sie mich nicht angerufen oder mir eine SMS geschickt? Eigenartig. Geht der Stellungskrieg also weiter. Was ist nur aus uns geworden? Kurz entschlossen nehme ich den Weg zum Koh-Lanta-Imbiss, wo ich immer esse, wenn ich allein bin und nicht gestört werden möchte. Gott sei Dank ist nicht viel los, und ich bekomme nicht nur problemlos einen Parkplatz, sondern auch noch einen sehr schönen, ruhigen Platz im Lokal, wo ich ein „Geang Keow Whan“ bestelle, dazu ein Singha Bier und gebackene Bananen mit Nüssen und Honig im Palatmantel. Während ich das Essen hinunterschlinge und in dem Magazin blättere, fällt mir ein, was Franziska vor Kurzem sagte, als ich sie abends beim Verlassen der Agenturräume gefragt hatte, ob sie vielleicht Lust hätte, mit mir noch eine Runde im Alten Friedhof zu drehen. Ich wollte ein wenig vom Stress herunterkommen und nicht allein herumirren. Etwas einsilbig war ich neben ihr hergegangen und unter der mächtigen Rotbuche stehen geblieben, um die verwitterte Inschrift auf einem Grabstein zu entziffern. Franziska war, ohne dass ich es bemerkt hatte, schon ein paar Schritte vorausgelaufen. Da hatte sie sich umgedreht, war zurückgekommen und hatte mich mit leicht resignierter Stimme gefragt, ob ich wohl nur noch aus Agentur bestehe? Warum ich mich mit allen Kräften vor der bösen Außenwelt abschirme, als gelte es, ein Geheimnis zu hüten. „Aber das Problem wächst doch nur, wenn du es nicht mit anderen teilst“, hatte sie klug und mit leicht vorwurfsvollem Unterton geendet.

Ich hatte abwehrend den Kopf geschüttelt und gefragt, wie sie das meine. Als ich sie aber so vor mir stehen sah, mit ihren ernsten Augen, den vollen, freundlich geschwungenen Lippen und dem majestätisch feinen Jochbogen, da konnte ich nichts mehr sagen. Zu mächtig war der Wunsch, sie in den Arm zu nehmen und zu küssen, was ich mir bisher erfolgreich versagt hatte. Was würden die Kollegen in der Agentur sagen, bekämen sie mit, dass zwischen uns beiden etwas läuft. Ich schaute an Franziska vorbei, ließ die Schultern hängen und schüttelte resigniert den Kopf.

 

Es wurde eine lange Aussprache in einem Bistro in der Nähe des Alten Friedhofs, wo wir eng nebeneinandersaßen und redeten, ohne uns anzusehen. Und es wurde ein langer Abend. Wie sich herausstellte, wusste Franziska längst, dass meine Ehe mit Katharina auf der Kippe stand, dass wir seit Monaten eine Paartherapie machen und dass ich im Augenblick mit der Sorge lebe, Katharina werde sich von mir trennen, sobald Lilli und Tim aus dem Haus sind. Franziska hatte sich nie etwas anmerken lassen. Sie erwähnte nur, dass sie mich sehr schätze und dass sie das Gefühl habe, sie müsste mir alles zurückgeben, was ich für sie getan habe. Ich wusste nicht sofort, was sie damit meinte. Aber sie hatte ihre Hand auf meinen Oberschenkel gelegt und mich eindringlich angesehen. „Du willst aber jetzt nicht noch einmal hören, wie wichtig es war, dass du mich angestellt hast?“

Damit schien alles gesagt. Und ich glaubte, genau zu wissen, was sie meinte. Aber da hatte ich mich wieder einmal – wie so oft in meinem Leben – gründlich getäuscht. Es sollte allerdings noch einige Wochen dauern, bis ich diesem Geheimnis auf die Spur kam. Es war offenbar der Teil ihrer Geschichte, über den sie weniger gern sprach. Und dennoch verband sie uns mehr, als ich mir bis zu diesem Zeitpunkt träumen ließ.

 

Ich kehre zu dem Artikel zurück, dem nun meine ganze Aufmerksamkeit gehört. Es geht um eine Zeit, die ich längst abgehakt und ad acta gelegt habe, die für meine Gegenwart bis heute keine Bedeutung mehr hatte. Und nun bemerke ich erschüttert, dass ich mich selbst belogen und verdrängt hatte, was damals passiert war. Und diese Verdrängung hatte meine ganze Energie gefordert. Sie nimmt ihren Anfang mit der Geschichte Magdalena Salomons, die ich persönlich nie kennengelernt habe, die sich aber in meiner Erinnerung ganz plastisch darstellt.

In dem Bericht erzählt Magdalena, dass sie ihren Kampf um das Erbe Hagen Wandels endgültig gewonnen habe. Wenngleich der Preis dafür in keiner Relation zum Aufwand stehe. Ihr sei es aber um Gerechtigkeit gegangen. Und die sei ihr nun widerfahren. Für das Gericht hatte es keine Zweifel gegeben: Das Testament Hagen Wandels sei eindeutig. Wieso aber das Päckchen mit den Briefen und dem Letzten Willen erst vor knapp einem Jahr aufgetaucht sei, das bleibe weiterhin ein Rätsel. Aber schlussendlich konnten auch die Verwandten Hagen Wandels die Echtheit der Dokumente nicht vertuschen oder leugnen. Und so kam Magdalena in einen nicht unerheblichen Besitz von knapp 100 Bildern, 150 Radierungen, unzähligen Drucken, Skizzen und Entwürfen. Sie haben zusammen einen Schätzwert von etwas mehr als 7,5 Millionen Euro. Vom Atelier mit dem weitläufigen Seegrundstück und dem Haus in Estaing ganz zu schweigen. Das Wichtigste für Magdalena aber ist, laut Interview, dass mit den Briefen eindeutig belegt werden konnte, dass sie am Tod Hagen Wandels keinerlei Schuld traf.

Ich lasse den Artikel sinken, gebe der Bedienung ein Zeichen, mir die Rechnung zu bringen, und verlasse, von dunklen Gedanken umwoben, das Restaurant, um mich mutlos auf den Heimweg zu machen …

 

Josch 08.01.2017, 00.00

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