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Der Gesang der Flusskrebse

Einsamkeit
ist ein zentrales Thema in Delia Owens' Roman „Der Gesang der Flusskrebse“. Mir fiel beim Lesen Erich Kästners kleines Solo „Einsam bist du sehr alleine…“ ein. Der Roman beschreibt den Überlebenskampf einer anfangs Siebenjährigen in der Marsch an der Küste North Carolinas. Kya, das Marschmädchen, wie sie von den Bewohnern des kleinen Städtchens Barkley Cove ausgrenzend genannt wird, wird von ihrer Mutter, ihren Geschwistern und ihrem Vater verlassen und schlägt sich allein durch. Sie verbringt ihre Tage im Labyrinth der Marsch, einem Land mit beeindruckend vielfältiger Fauna und Flora, die Kya wie kein anderer Mensch kennt. Sie sammelt von Federn über Insekten, Nestern, Muscheln, Gräsern und Pilzen alles, was sich sammeln und aufbewahren lässt. Die Schule besucht sie nur einen Tag. Kya fängt Fische und sammelt Muscheln, die sie gegen Treibstoff für ihr Boot und die notwendigsten Lebensmittel bei Jumpin, einem Schwarzen, eintauscht. Als sie bei ihrem ersten größeren Ausflug mit dem Boot nicht mehr zu ihrer Hütte zurückfindet, trifft sie auf Tate, einen etwa drei bis vier Jahre älteren Freund ihres Bruders Jody, der ihr den Weg zurück in ihre Lagune, ihr Zuhause zeigt.

Sich einlassen und verlassen werden 

Tate, der die gleichen Interessen wie sie hat, bringt ihr Lesen und Rechnen bei, verliebt sich in das heranwachsende Mädchen, glaubt aber, Kya würde sich in seiner akademischen Welt nicht zurechtfinden und verlässt sie, ohne sich von ihr zu verabschieden. Er hatte sich eingebildet, er könnte im Studium und je länger er von Kya getrennt ist, über sie hinwegkommen. Aber er hat sich getäuscht. Kya, inzwischen 16 Jahre alt und auf dem Weg zur Frau, verliert mit Tate erneut einen Menschen. Ihre soziale und psychische Grunderfahrung ist das Verlassenwerden. Kein Mensch, und sei er ihr noch so nah, bleibt bei ihr. Einzig Jumpin und seine Frau Mabel unterstützen das Mädchen und die junge Frau, schenken ihr Kleidung und Lebensmittel, sind Vertraute und Freunde.


Opfer sexueller Ausbeutung

Eines Tages taucht der reiche Sonnyboy und Womanizer Chase Andrews in ihrer Marschwelt auf. Ihm geht es nur darum, sie zu erobern. Und er stellt das raffiniert an, lässt sich Zeit, bis er sie nach fast einem Jahr in einem heruntergekommenen Motel mehr oder minder rücksichtslos nimmt. Kya lässt es mit sich geschehen, weil sie glaubt, das sei normal. Sie schenkt Chase eine Muschelkette, die sie selbst gemacht hat, und ein von ihr gestaltetes Bilderbuch. Er verspricht ihr, sie zu heiraten, ihr in der Marsch ein Haus zu bauen und sie an seiner Welt teilnehmen zu lassen. Da entdeckt sie eines Tages, dass er mit einer anderen Frau verlobt ist und sie nur ausgenutzt und benützt hat. Wieder muss sie den Verlust eines Menschen verarbeiten.


Leuchtsignale der Leuchtkäfer

Dann tritt Tate wieder in ihr Leben. Der mittlerweile renommierte Biologe animiert sie, ein Buch über die Tier- und Pflanzenwelt der Marsch zu schreiben, als er sieht, welch unglaubliche Sammlung sie inzwischen angelegt, gemalt und archiviert hat. 

Als Chase Andrews eines Tages tot aufgefunden wird, gibt es für die Bewohner von Barkley Cove, dem kleinen Städtchen am Rande der Marsch, nur einen Menschen, der für den Mord in Frage kommt: das Marschmädchen. Es kommt zu einem Prozess…


Soziale Grundbedürfnisse

Was Einsamkeit auslösen und bewirken kann, wurde hinreichend erforscht und dargestellt. Es dürfte wohl keinen Menschen geben, der sich nicht schon einmal einsam fühlte und dieses grausame Gefühl erlebt hätte, der eine mehr, der andere weniger. Wobei Alleinsein und Einsamkeit bekanntlich nicht dasselbe sind. Kontakt und Beziehung gehören zu den sozialen Grundbedürfnissen des Menschen. Bei Kya führt das Alleinsein, die Einsamkeit und die Abschottung von der Zivilisation zu einer nahezu animalischen Verbundenheit mit der Natur.

Die erzählte Zeit des Buches umfasst knapp 60 Jahre, sie beginnt 1952 und endet 2009, gegliedert in Rückblenden, die mit der zentralen Zeit der Jahre 1969 und 1970 verschränkt sind. Der Rhythmus der Erzählzeit gibt den Rückblenden mehr Raum, sodass sich allmählich eine unglaubliche Spannung aufbaut.


Fazit

Das Buch ist Entwicklungsgeschichte und Krimi in einem. Und es ist, wie Catrin Lorch in der Süddeutschen Zeitung schrieb, nicht einfach zu kategorisieren. Wobei man sich fragt, was dem Leser so eine Kategorisierung bringen soll. Diese Einteilung in literarische Schubladen ist eines der vielen Pseudoalibis des sich bewusst intellektuell gebenden Kritikers.

Für mich ist das Buch zutiefst berührend, bewegend und beeindruckend, und ich schließe mich daher in meinem Urteil Elke Heidenreich an, die über das Buch sagt: „Ein wundervolles Buch, eines der schönsten Bücher, die ich in diesem Jahr gelesen habe“, wie sie auf der vierten Umschlagseite des Buches zitiert wird. 

Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse. Roman. Wilhelm Heyne Verlag. München 2020. 457 Seiten. ISBN 978-3-453-42401-2. 11,90 €

Über die Autorin: Delia Owens, geboren am 4. April 1949 in Georgia, lebt auf einer Ranch in Idaho. Über zwanzig Jahre erforschte die promovierte Zoologin in verschiedenen afrikanischen Ländern Elefanten, Löwen und Hyänen. Als Kind verlebte Owens die Sommerurlaube mit ihren Eltern in North Carolina, wo ihr Romandebüt spielt, das in kürzester Zeit sieben Millionen Mal verkauft wurde

Josch 16.04.2021, 19.56

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