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Empathie: Was ist das?

„Echtes Mitgefühl kann sich nur im Alltagsleben äußern“

Nach Ansicht von Manfred Spitzer, Professor für Psychiatrie in Ulm, sind immer weniger (junge) Menschen zur Empathie fähig. Vereinfacht gesagt, begründet er dies damit, dass sie aufgrund ihrer permanenten Präsenz im Netz nicht mehr unmittelbar und direkt erleben, sondern nur noch über ein Medium. Dadurch verlieren sie, so Spitzer, wenn ich ihn richtig verstanden habe, das Gefühl für Menschen und ihre Probleme. Der Psychiater und Neurologe äußerte dies vor Kurzem in einem Interview im Fernsehen. Spitzer, den ich aufgrund verschiedener Vorträge und Publikationen sehr schätze, ließ mich betroffen und verunsichert zurück. Nicht dass ich alles, was der hochrenommierte Wissenschaftler von sich gibt, ohne nachzudenken glauben würde. Aber zum Nachdenken brachte es mich schon.



Empathie: Was ist das?

Der Begriff Empathie leitet sich ab von griechisch empátheia, was soviel wie Leidenschaft heißt. Es ist die Bereitschaft und die Neigung, vor allem aber die Fähigkeit, sich in die Erlebensweise anderer Menschen einzufühlen. Damit verbunden ist die Fähigkeit, neue soziale Rollen zu übernehmen und fremde (Wert-)Vorstellungen in die eigenen zu integrieren. So lese ich dies etwa im Brockhaus und im Wahrig. Es geht also nicht nur um die Fähigkeit, sondern auch um die Bereitschaft, sich in andere einzufühlen. Mit anderen Worten: Ich muss mich nicht nur einfühlen können, sondern mich auch einfühlen wollen. Ich muss bereit sein, mich an die Stelle eines anderen zu denken bzw. mich in seine Situation zu versetzen.

Ich lese bei Antoine Oldendorff: „Wenn wir über unsere Alltagserfahrungen nachdenken, wird uns ganz von selbst bewusst, dass das Ich als Ich nur in der Beziehung vorkommt. Es ist ein Ich, das den anderen anspricht, das in Gegensatz zu dem anderen steht, das dem anderen gibt oder von dem anderen fordert, das sich mit dem anderen vereinigt oder sich von dem anderen unterscheidet.“ Zugegeben, das scheint ein wenig weit her geholt. Aber im Grunde setzt doch das Einfühlen in andere eine konkrete Situation, Erfahrung, ein konkretes Erleben voraus. Dieses Nachdenken über meine Alltagserfahrungen ist gewissermaßen die Voraussetzung für Empathie. Ich frage mich, ob ich aufgrund permanenter Netzpräsenz noch Raum und Zeit habe, über Alltagserfahrungen, über mich und meine Mitmenschen nachzudenken. „Warum sind Menschen überhaupt sozial und kooperativ? Diese Frage erscheint zunächst eigenartig, und man möchte zurückfragen: Warum sollten sie es denn nicht sein? Schließlich gehören Hilfe, das Teilen von Nahrung, Nächstenliebe und Altruismus zum Menschsein wie Brötchen zum Frühstück […] Wer für das Leben von drei Geschwistern, fünf Enkeln oder neun Neffen und Nichten sein Leben riskiert, setzt sich (bzw. seine Gene) langfristig durch“, so Spitzer in seinem Buch „Lernen“.


Das Dilemma der Nachrichtenflut

Zwar nehme ich über mein Smartphone, den Computer, das Tablet viele Nachrichten auf, lese von Tragödien und Katastrophen, aber das lässt mich noch nicht betroffen zurück, da es wie im Vorbeigehen oder Vorbeifahren passiert: Ich fahre an einem Unfall vorbei und habe gar nicht die Zeit, mich näher damit zu beschäftigen. Zudem muss ich darauf achten, nicht selbst in einen Unfall verwickelt zu werden. So ähnlich ist es mit den sogenannten News im Netz auch, mit dem Austausch privater Nachrichten, eMails, WhatsApp-Nachrichten und dergleichen. Ich habe mein Gegenüber nicht unmittelbar vor mir. Ich bekomme nicht direkt mit, wie sehr er gerade mit Tränen kämpft oder wie er über etwas lacht. Natürlich kann man das auch abbilden, aber der unmittelbare soziale Kontakt ist nicht vorhanden. Einfühlung aber braucht diesen unmittelbaren Kontakt, so Spitzer


Bei Erich Fromm lese ich: „Der Mensch hat sich von den anderen entfremdet und befindet sich in einem Dilemma: Er hat vor nahem Kontakt mit anderen Angst, und er hat genau so Angst, allein zu sein und keinen Kontakt zu haben. In schlechter Gesellschaft zu verkehren, bedeutet nicht nur, sich mit trivialen Menschen zu umgeben, sondern auch mit bösen, sadistischen, destruktiven, lebensfeindlichen. Aber warum, könnte man fragen, ist schlechte Gesellschaft eine Gefahr, solange sie nicht versucht, einem in der einen oder anderen Form zu schaden?“ Ein, wie ich finde, wichtiger Aspekt, der sich wie ein Puzzleteilchen in das Problemfeld Empathie einfügt. Aber Angst ist ja schon etwas Positives. Ich zeige damit, dass ich noch keine emotionslose Maschine bin. Dennoch frage ich mich, wie Einfühlung, Empathie eigentlich entsteht. Entwickelt sie sich nicht durch die Erziehung, durch das soziale Umfeld, in dem das Kind aufwächst? Durch die Zuwendung, die das Kind durch die Mutter erfährt, durch das Mitleiden und Trösten, wenn sich das Kind verletzt hat oder wenn es von anderen Kindern geärgert oder ausgegrenzt wurde? Und kann man diese Fähigkeit, sich in andere einzufühlen, wieder verlieren, wenn man sie schon einmal hat? Wenn mich das Schicksal anderer Menschen kalt lässt, wenn ich hartherzig auf meinen Vorteil bedacht andere links liegen lasse: Wie kann es geschehen, dass ich mich doch irgendwann wieder erweichen lasse?

Wie kann man den Menschen Ängste nehmen, wie sie aus ihrem Kokon befreien, wie sie aus der Bequemlichkeit ihrer kleinen privaten Welt herauslocken? Durchs Beispiel vielleicht? So wie das Kind einst Empathie „gelernt“ hat? In vielen Fällen hilft sicher die Begegnung, der unmittelbare Kontakt, die Auseinandersetzung. Damit bin ich wieder beim Anspruch Spitzers. Ich muss mich dem Menschen unmittelbar ausliefern, ihn in meine Welt lassen. Gegen die Ängste vor dem Fremden hilft keine Abkapselung, ja Homogenität ist eher ein Hindernis für die positive Entwicklung einer Gemeinschaft, „weil bei gleicher Problemlage allzu schnell ein imaginärer Feind gefunden ist, den die Gruppe im Dienste gemeinsamer Triebabwehr bekämpft, um sich selbst im gemeinsamen Leiden zu finden“, sagt Dietrich Stolberg. Vielfalt ist bunt und vielversprechend. Das bedeutet nicht, alles Fremde chic zu finden, alles anzunehmen. Keinesfalls geht es darum, mich mit dem Fremden zu identifizieren. Identifikation hat nichts mit Empathie zu tun. Identifikation vereinnahmt und lässt den anderen nicht so sein, wie er ist. Empathie ist Einfühlen in seine Gefühls- und Erlebenswelt, sie zu verstehen und nachzuempfinden, nicht sie zu übernehmen. Gar nicht so einfach, wie mir scheint. Ich muss also den anderen an mich heranlassen, ihm und mir Zeit geben, um nachspüren, einfühlen zu können. Und manchmal braucht man vielleicht sogar die Hilfe anderer Menschen, das Gespräch, den liebevollen Kontakt, um sich erweichen zu lassen.


Quellen:

Tolstoj, L.: Zeiten des Erwachsens. Herausgegeben von Axel Dornemann. Herder. Freiburg 1991

Brockhaus Die Enzykl. in 24 Bänden, Bd. 6

Oldendorff, A.: Grundzüge der Sozialpsychologie. J.P.Bachem Verlag, Köln 1965

Stollberg, D.: Seelsorge durch die Gruppe. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1971

Spitzer, M: Lernen. Elsevier Verlag, München 2007, S. 293f.

Fromm, E.: Vom Haben zum Sein. Wege und Irrwege der Selbsterfahrung. Beltz Verlag, Weinheim 1989

© Abbildung: pexels.com

Josch 01.10.2018, 14.03

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