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Jazzmesse. Fortsetzungsroman (16)

Jazzmesse erzählt von Bertram, Gabi und Hubert, Jugendlichen in der bayerischen Provinz in den 1960er-Jahren. Etwaige Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig. Frühmesse ist das erste von insgesamt zwölf Kapiteln. Mit dem folgenden Teil 16 ist das erste Kapitel abgeschlossen.

Frühmesse (16)

Kirchenrat Brummer vertrat die Ansicht, dass Heyde aufgrund seiner Pflichterfüllung und tadellosen Arbeit nach dem Krieg hinreichend bewiesen habe, dass er seinen Taten während des Krieges abgeschworen habe. Gibt es einen einzigen vernünftigen Grund, warum man nach zwanzig Jahren einen Menschen für seine Straftaten noch anklagen sollte? Gebietet uns die christliche Nächstenliebe nicht die Verzeihung? „Lasst sie doch endlich in Ruhe!“, forderte er die Richter in seinem Leserbrief auf.



Aber Heyde hatte sich, bevor es noch zur Anklage kam, im Zuchthaus erhängt. Er hatte darüber befunden, ob ein Menschenleben wert oder unwert sei. Menschen, die an ihrem Geist erkrankt waren, mussten sterben, weil sie nicht wert waren zu leben. Kirchenrat Brummer ist in der Pfarrgemeinde St. Georg hoch anerkannt. So wie er, denken die meisten, die jeden Sonntag in reiner Gesinnung in die Kirche und zur Kommunion gehen. Bertram konnte das alles nicht so recht verstehen. Er wusste zu wenig vom Krieg, von den Nazis, von den Massenmördern, von den Juden, den Zigeunern. In Geschichte waren sie gerade bis zum Ersten Weltkrieg gekommen. Er konnte den Studienrat einfach nicht ausstehen, vom Schielauge, wie er den Studienrat nannte, fühlte er sich durch dessen feuchte Aussprache ständig provoziert.

Einmal wischte er sich mit dem linken Ärmel übers Gesicht, als wollte er den Speichel von seinem Gesicht abwischen, als der Studienrat sich vor ihm aufgebaut und vom Zweiten Weltkrieg, seinem Lieblingsthema, erzählte, an dem er als Hauptmann teilgenommen hatte. Bertrams Banknachbar brach darauf in lautes Gelächter aus, worauf Gemeinweser ihn irritiert ansah und ihn an die Tafel beorderte, um ihn auszufragen.

Wenn Studienrat Gemeinweser allerdings im Geschichtsunterricht nicht von seinen Kriegserlebnissen an der Westfront erzählt hätte, wüsste Bertram so gut wie nichts vom Krieg und den Nazis. Sein Vater erzählte ohnedies nichts. Und seine Mutter wich solchen Fragen immer geschickt aus und sagte mit vorwurfsvoller Miene, es sei einfach eine andere Zeit gewesen. Bertram war allerdings davon überzeugt, dass kein Mensch das Recht habe, anderen Menschen das Leben zu nehmen, auch kein Richter.

Seitdem Kirchenrat Brummer diesen Leserbrief im Steinpfälzer Tagblatt veröffentlicht hatte, stellte sich Bertram den Kirchenrat oft im weißen Arztkittel vor oder auch in einer schwarzen Uniform mit langen Schaftstiefeln. Das müsste dem Brummer doch ganz gut stehen, sagte er sich dann zufrieden. Dabei hätte Bertram von dem Leserbrief gar nichts mitbekommen, wenn nicht Hubert Fürst davon erzählt hätte. Und tatsächlich, der Leserbrief war auf derselben Seite wie die Lokalnachrichten aus der Region abgedruckt. Er hatte die Überschrift: „Befehl ausführen oder selbst sterben: Die meisten haben nur ihre Pflicht erfüllt.“

Vorn am Altar jaulten die drei Geistlichen: „Dem Wort unseres Herrn und Erlösers gehorsam und getreu seiner göttlichen Weisung, wagen wir zu sprechen.“

Gebote, Verbote, Anweisungen und Gehorsam, Gebote erlassen, Anweisungen geben und Befehle erteilen ist schöner als sie ausführen müssen.

Die Köpfe der Gottesdienstteilnehmer sanken immer tiefer auf die Brust, als suchten sie nach einem verlorenen Gegenstand auf dem Steinboden der Kirche. Und über allen schien ein unsichtbarer Heiligenschein zu schweben wie eine Fermate über der Notenlinie. Nun sangen alle zusammen mit den Konzelebranten das Vater unser. Bertram konnte auch hierbei nicht mitsingen. Der Text bot zu wenig inhaltlich interessante Begriffe, die ihn zum freien Assoziieren angeregt hätten. Da selbst der Religionsunterricht das Gebet nicht erklärte, blieb er mit seinen Assoziationen allein.

»Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.« Auf Bertrams Gesicht erschien ein feines Grinsen. Dazu sagte er laut: »Amen!«, lauter als die übrigen Gottesdienstbesucher, weil er den zweiten Satz dieser Gebetsformel voll unterstreichen konnte. Ob die Gottesdienstbesucher allerdings mit ihrem Amen dasselbe bestätigten wie er, das konnte er nicht sagen.

„So sei es“ oder „Das ist wahr“, hatte vor längerer Zeit Kaplan Meyer im Religionsunterricht erklärt, sei die korrekte Übersetzung von Amen. Aber das interessierte keinen in der Klasse. Sogar auf Karl Wimmer schien die Bedeutung der Gebetsformel keinen Eindruck zu machen. Jedenfalls wurde ihm in letzter Zeit im Religionsunterricht häufig schlecht, und er wurde deswegen meistens zusammen mit Richard Schnabel an die frische Luft geschickt. Oft kam er dann nach einer halben Stunde mit weißem Gesicht wieder zurück, packte seine Schulsachen ein und verließ wortlos das Klassenzimmer, ohne sich bei der Lehrkraft zu entschuldigen. Und Kaplan Meyer war dies offensichtlich egal. Im Religionsunterricht hatte Karl Wimmer einfach Narrenfreiheit, da er ja Priester werden wollte, und dagegen konnte man nun wirklich nichts einwenden.

Bertram jedoch sagte seitdem nur noch „Amen“ im Gottesdienst, wenn er mit dem, was der Priester von sich gab, einverstanden war. Nach Bertrams Gefühl, passte „Amen“ nur ganz selten. Dies dürfte auch der Grund dafür gewesen sein, dass Bertram im Gottesdienst immer schweigsamer, ja innerlich renitenter wurde und schließlich, wann immer es möglich war, die Gottesdienste schwänzte. Das Wort Amen jedoch verwendete er seit diesem Abendgottesdienst eigenartigerweise nur noch im Unterricht, zu Hause oder bei der Theaterprobe, allerdings häufig in Situationen, in denen kein Mensch verstand, was er damit meinte und worauf er es bezog.

Josch 20.08.2017, 12.37

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