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Jazzmesse. Fortsetzungsroman (24)

Abendgottesdienst (1)

Am Montag, dem 17. Januar, berichteten die Zeitungen von der Uraufführung des Stückes Die Plebejer proben den Aufstand von Günter Grass, die am 15. Januar am Schillertheater in Berlin stattgefunden hatte. Für manche Kommentatoren war das Stück eine Diffamierung Bert Brechts. Sein Stück, so argumentierten sie, versuche eindeutig, Brechts Engagement für den Sozialismus schlecht zu reden. Grass habe ganz offensichtlich eine fiktive Situation auf dem Hintergrund des Aufstands der Menschen vom 17. Juni 1953 im anderen Teil Deutschlands als Aufhänger genommen, um Brecht als Erfüllungsgehilfen der Unterdrücker zu verunglimpfen.



Das Steinpfälzer Tagblatt hingegen war voll des Lobes über das Stück und nannte Grass einen Patrioten mit visionären und analytischen Fähigkeiten. Mit diesem Stück sehe sich Grass Gott sei Dank der Wahrheit verpflichtet und zeige einen Bert Brecht, der im entscheidenden Augenblick das sogenannte Proletariat im Stich gelassen und nur seiner egoistischen intellektuellen Links-Propaganda gelebt habe. Als sich die ihrer Rechte beraubten Menschen in der Ostzone gegen die Ungerechtigkeit und Unterdrückung erhoben hätten, sei Brecht stumm geblieben und habe sich den aufständischen Arbeitern verweigert. Erst als sowjetische Panzer den Aufstand niederwalzten, sei es bei ihm zum Umschwung gekommen. Doch da konnte er nichts mehr bewirken, seine Unterschrift unter das Manifest sei zu spät gekommen. Das Stück von Günter Grass, so die Zeitung, schildere eindrucksvoll die blamable Haltung vieler vermeintlich Intellektueller. Die Figur des Chefs in Die Plebejer proben den Aufstand widme sich der Literatur, statt konkret etwas gegen die Machthaber und ihre Panzer zu unternehmen.

Als Bertram beim Frühstück zufällig auf den Artikel im Steinpfälzer Tagblatt stieß, wusste er nicht, worum es darin eigentlich ging. Da seine Liebe zur Schauspielerei noch ganz zart war, sog er alles, was mit dem Medium Theater zu tun hatte, begierig in sich auf. Er las den Zeitungsbericht über Brecht, Grass und das Theater mehrmals und verstand einfach nicht, was damit gemeint war. Kurzentschlossen fragte er am gleichen Tag noch in der Pause Studienrat Gemeinweser, was das eigentlich für ein Stück sei, das der Schriftsteller Grass da geschrieben habe. Der Studienrat jedoch kannte das Stück auch nur aus der Zeitung und den Nachrichten.

Gemeinweser beschäftigte sich nur ungern mit Texten von Brecht und Grass. Seine Lieblingsdichter waren Fontane, Stifter, Agnes Miegel und Ludwig Thoma. Und von den Dichtern und Dramatikern jüdischer Abstammung las er nur jene, die ihm der Lehrplan für den Deutschunterricht auferlegte. Grass als Literat jedenfalls war keine Pflichtlektüre an Bertrams Gymnasium in der Steinpfalz.

Als Bertram in perfekt gespielter Naivität vorgab, er würde gern über das Stück mehr wissen, gab jener ausweichende Antworten und rabulierte, dass er sich darüber im Augenblick kein Urteil erlauben könne.

„Ich habe von Grass lediglich Die Blechtrommel gelesen, das heißt, wenn ich ehrlich bin, nur halb. Sehen Sie, Wandel, dieser Roman richtet sich eindeutig gegen die Ordnung der Kirche und gegen die allgemeine Sittlichkeit.“

„Ich verstehe …“, murmelte Bertram und nickte dümmlich mit dem Kopf.

Doch der Studienrat schien Bertrams Einwurf gar nicht gehört zu haben und ereiferte sich mit erhöhter Stimme: „Der Schriftsteller Grass entweiht ganz offensichtlich mit seinem sogenannten Theaterstück alles, was einem Christen heilig ist. Im Übrigen hat sich ein Dichter aus der Parteipolitik herauszuhalten, wenn Sie wissen, was ich meine, Wandel.“

„Ja, ja, freilich. Da haben Sie Recht, Herr Doktor“, erwiderte Bertram lächelnd.

„Als Schriftsteller versteht Grass rein gar nichts von Politik, wie seine Reden ja hinlänglich belegen. Denn, ich frage Sie, Wandel: Wie könnte Grass sonst für die SPD Propaganda machen, wenn er was von Politik verstünde, was?“

„Aber Ludwig Thoma hat seinerzeit doch auch gegen die herrschenden Zustände in Bayern gewettert. Das haben Sie selbst schon mehrmals gesagt, Herr Doktor. Sie haben uns auch einmal eine Glosse von Thoma über die Reden Kaiser Wilhelms II. vorgelesen. Damit hat sich Thoma doch nicht nur der Majestätsbeleidigung schuldig gemacht, sondern auch die herrschenden Politiker angegriffen und kritisiert, wenn ich das richtig verstanden habe.“

„Aber Wandel, Sie können doch Ludwig Thoma und sein grandioses Werk nicht mit dem wirren Geschreibsel eines Günter Grass vergleichen.“

Bertram blickte wie belämmert zu Boden: „Ich verstehe, Herr Doktor. Aber ich kenne ja von Thoma nur besagte Glosse und dann noch die Lausbubengeschichten“, versuchte sich Bertram herauszureden, bedankte sich überschwänglich für die Geduld des Studienrats, drehte sich um und beeilte sich, aus dem Schulzimmer zu kommen. Der kleine, breitschultrige Studienrat blieb verständnislos dreinblickend zurück, schüttelte den Kopf, griff nach seiner Aktentasche und schlurfte vornübergebeugt aus dem Schulzimmer, den Gang hinunter bis zum Lehrerzimmer, wo er vor der Tür stehen blieb, als warte er auf die Erlaubnis, eintreten zu dürfen.

Bertram hingegen wollte so schnell nicht aufgeben. Er überlegte, woran es liegen mochte, dass er Gemeinweser nicht ausstehen konnte. Vielleicht war es ja dessen Sprachfehler. Gemeinweser war nämlich ein Lispler und konnte weder das S noch  das Sch richtig aussprechen, was manchen Schüler zu herrlichen Parodien animierte, wobei sich Bertram besonders stark hervortat, und dabei war er schließlich in seinem Element.

Die Auskünfte des Studienrats befriedigten ihn keineswegs. Er wollte unbedingt herausfinden, was es mit dem Stück von Günter Grass auf sich habe. Daher ging er sogleich nach dem Unterricht in die einzige Buchhandlung am Ort, um sich besagtes Bühnenstück zu besorgen.

Copyright Abbildung: (c) by fotolia, 7razer

Josch 10.12.2017, 13.20

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