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Nachrichten, die fassungslos machen

Wenn Nachrichten uns fassungslos zurücklassen

Die Nachricht kam per WhatsApp von seiner Sekretärin. Mit dürren Worten teilte sie den Freunden und Bekannten mit, dass er vor wenigen Tagen verstorben sei, weil er krank war. Ich war schockiert. War er vor zwei Wochen doch noch frisch und kerngesund, als wir uns getroffen hatten. Er hatte weder über Schmerzen noch über eine Krankheit gesprochen, und er war sportlich, voller Tatendrang und Pläne. Er machte einen optimistischen Eindruck auf mich, schien nach vorn zu blicken, war erfolgreich – so schien es jedenfalls. Und: Er war noch jung, zwar nicht mehr der Allerjüngste, aber auch nicht in einem Alter, in dem das Sterben durchaus normal ist. Wenn man das überhaupt so sagen kann.



Wieso er?

… so fragt man sich oft. Mir ging sein Tod tagelang im Kopf herum. Immer wieder musste ich an ihn denken. Immer wieder fragte ich mich, wie es sein konnte, dass er so plötzlich gestorben ist. Unwillkürlich denkt man dabei auch an den eigenen Tod. Ich habe allen möglichen Bekannten und Freunden davon erzählt und immer wieder betont, wie sehr mich sein Tod beschäftigt. Auf die Beerdigung wollte ich dennoch nicht gehen, weil ich befürchtete, es könnten zu wenig Menschen da sein, die ich kenne, und seine Familie war mir fremd.

Und dann traf ich mehr zufällig seine Lebensgefährtin, mit der er erst vor Kurzem zusammengezogen war. Zuerst traute ich mich nicht, sie direkt zu fragen. Doch sie sagte mir ganz offen, ich könne alles fragen, was mich interessieren würde. Ich fragte nach der Todesursache.

„Er hat sich umgebracht“, antwortete sie. Ich musste mich festhalten. Das konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen.

„Ja, aber warum denn?“, wollte ich wissen.

„Er war mit seinem Geschäft kurz vor dem Insolvenzantrag. Das hat er nicht verkraftet.“

„Und hat er denn mit dir nicht darüber gesprochen?“, wollte ich wissen.

„Nein. Er hat mit niemand darüber gesprochen. Er ist in einen Wald gefahren und hat sich erhängt. Ganz einsam, ganz heimlich. Ohne großes Trara. Einfach so.“


Suizidraten

Ich konnte es einfach nicht fassen. Schließlich kannten wir uns seit fast 25 Jahren. Und er hat nie auf mich einen depressiven oder suizidalen Eindruck gemacht. Er war meines Wissens auch in keiner psychologischen Behandlung. Er hat seine Sache ganz mit sich allein ausgemacht. Wäre er erfolglos oder von Drogen oder Alkohol gekennzeichnet gewesen, hätte er ein unheilbares körperliches oder neurologisches Leiden gehabt, hätte ich diesen Schritt ja verstanden. Aber er hatte weder geraucht noch getrunken, war weder drogenabhängig noch hatte er ein körperliches Leiden.

In meinen Augen ist ein Mensch, der sich selbst das Leben nimmt, krank. Sogar schwerkrank.

In Deutschland nahmen sich im Jahr 2017 9235 Menschen das Leben. Die weitaus häufigste Methode ist Suizid durch Erhängen, Strangulieren oder Ersticken. Und es nehmen sich weitaus mehr Männer als Frauen das Leben. 2017 waren es 76 Prozent Männer und 24 Prozent Frauen. Das Durchschnittsalter lag bei Männern bei 57,6 Jahren, bei Frauen leicht höher bei 58,6 Jahren. Auf die Gesamtbevölkerung in Deutschland umgelegt bedeutet dies, dass jeden Tag etwa 25 Menschen den Freitod wählen. Insgesamt ist die Suizidrate stark rückläufig. So haben 1980 in Deutschland noch doppelt so viele Menschen ihrem Leben selbst ein Ende gemacht. Etwa 30 Prozent aller Suizide sind Folge einer psychotischen Erkrankung.1 Noch in den 1970er-Jahren ging man davon aus, dass jeder zweite Mensch in seinem Leben schon einmal suizidale Gedanken hatte.


Hand an sich legen

In seinem Buch „Hand an sich legen“2 setzte sich Jean Améry mit dem Freitod auseinander, den er dann 1978 selbst wählte. Améry wählte bewusst den Begriff Freitod und grenzte sich damit von der umgangssprachlichen und moralisch belasteten Begrifflichkeit Selbstmord ab. Für ihn gehörte der Freitod zum selbstbestimmten Leben, unabhängig von Religion und Gesellschaft. So urteilte zum Beispiel Geno Hartlaub über Améry: „Über das Verhältnis zwischen dem jahrhundertelang tabuisierten Selbstmord und dem im Vollbesitz der intellektuellen und seelischen Kräfte geplanten und durchgeführten Freitod hat wohl niemand Wesentlicheres gesagt als Jean Améry.

Warum für mich der Begriff Selbstmord dennoch eine gewisse Berechtigung hat, hängt damit zusammen, dass „jeder Suizid ein Stück weit auch einen Mord an den Hinterbliebenen darstellt“, wie es der Psychiater Günter Ammon einmal formulierte. Sie bleiben in den allermeisten Fällen fassungslos zurück und müssen aushalten, wovor sich der Suizidant verabschiedet hat.


Wie damit umgehen?

Das Wissen, dass sich mein Bekannter das Leben genommen hat, macht mir den Abschied nicht leichter, es erleichtert nicht meine Trauer oder Fassungslosigkeit. Im Gegenteil: In meine Gefühle mischt sich auch leichte Wut darüber, dass ich mich so in ihm getäuscht habe. Und es ist auch ein Stück Wut darüber, dass er weder zu den ihm am engsten verbundenen Menschen noch zu mir oder meinesgleichen Vertrauen hatte, dass er nicht den Mut hatte, über seine Verzweiflung zu sprechen. Oder hat ihm unser Verhalten den Mut genommen, über seinen Schatten zu springen? Es bleibt also die Frage, was ich anders hätte machen können. Ich bleibe einfach ratlos zurück. Und das wird noch einige Zeit so bleiben.


Reiner, Artur/Kulessa, Christoph: Ich sehe keinen Ausweg mehr. Mainz; Améry, Jean: Hand an sich legen. Stuttgart; Schellenbaum, Peter: Die Wunde der Ungeliebten. München; Ammon, Günter: Handbuch der Dynamischen Psychiatrie 1

Abbildung © pexels, Kat Jayne.

Josch 24.10.2019, 13.13

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