Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide...

heißt es in Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre«. Das schmerzliche Verlangen kann sowohl beflügeln als auch niederdrücken. Man kann sich nach einem geliebten Menschen verzehren, der irgendwo, weit weg vielleicht, lebt und den man gern bei sich hätte, mit dem man gern zusammen wäre. Man kann sich nach einem Ort sehnen, an dem man wunderschöne, unvergessliche Stunden verlebte, man kann sich nach der Heimat sehnen – was immer man darunter versteht –, man kann sich nach einem bestimmten Gemütszustand, einem Gefühl sehnen, kann danach schmachten, diesen Zustand wieder zu erreichen.

Sehnsucht ist liebendes oder schmerzliches Verlangen

Haftet der Sehnsucht nicht etwas Unwiderbringliches an? Immanuel Kant nannte die Sehnsucht einen »leeren Wunsch, die Zeit zwischen dem Begehren und Erwerben des Begehrten vernichten zu können«. Sich nach jemand sehnen oder etwas herbeisehnen ist liebendes, meistens jedoch schmerzliches Verlangen. Sehnsucht kann brennen, glühen, verzehren.

Nur wer die Sehnsucht kennt,

Weiß, was ich leide!

Allein und abgetrennt

Von aller Freude,

Seh ich ans Firmament

Nach jeder Seite.

Ach! der mich liebt und kennt,

Ist in der Weite.

Es schwindelt mir, es brennt

Mein Eingeweide.

Nur wer die Sehnsucht kennt,

Weiß, was ich leide!

Franz Schubert hat das Gedicht Goethes vertont. Dieses schwermütige, wunderschöne Lied berührt tiefste Gefühle, animiert zum Träumen, macht bereit, sich dem Schmerz hinzugeben im Wissen, dass man nie erlangen werde, was man sich so innig wünscht, wonach das Herz verlangt.

Sehnsucht kann krank machen

Sie kann wirklich krank machen, diese Sehnsucht. Ich denke an die unerwiderte Liebe, an Heimweh nach dem Ort, den es nicht mehr gibt. Gerade in unserer Zeit, in der so viele Menschen alles aufgeben – Freund, Bruder und Schwester, Eltern und Großeltern, Wohnung und oft auch Arbeitsstätte, das Land, in dem sie geboren und aufgewachsen sind – und sich auf einen strapaziösen Weg mit unbekanntem Ziel machen, um in ein fremdes Land zu kommen. In ein Land, in dem sie von fremden Menschen umgeben sind, in dem sie von vielen Menschen unerwünscht sind. Auf diesem Hintergrund bekommt Sehnsucht für mich eine ganz neue, tiefe Dimension. Sie kommt dem Gedicht Rainer Maria Rilkes sehr nahe

Das ist die Sehnsucht

Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge

und keine Heimat haben in der Zeit.

Und das sind Wünsche: leise Dialoge

täglicher Stunden mit der Ewigkeit.

 

Und das ist Leben. Bis aus einem Gestern

die einsamste von allen Stunden steigt.

die, anders lächelnd als die andern Schwestern,

dem Ewigen entgegenschweigt.

Auf etwas hinfiebern, herbeisehnen

Sich für etwas verzehren, auf etwas hinfiebern, mit allen Fasern seines Lebens sich den Träumen und Wünschen hinzugeben, das macht einen Menschen menschlich. Ich kann mich in ihn hineinversetzen, weil ich am eigenen Leib schon erfahren habe, wie die Sehnsucht in mir brennt. Geschwister der Sehnsucht sind Fantasie und Wunsch. Sind Wünsche nicht dazu da, erfüllt zu werden? Und doch ist die Wunscherfüllung nicht immer erstrebenswert. Anders verhält es sich mit der Sehnsucht.

Sehnsucht kann Flügel verleihen

Wir sollten uns unserer Sehnsucht stellen und sie mit anderen Menschen teilen: mit Menschen, denen wir vertrauen, Menschen, die die Sehnsucht kennen und die wissen, wie schmerzhaft Sehnsucht sein kann. Wenn ich meine Sehnsucht mit anderen teile, verleiht sie mir Flügel, und ich gewinne dadurch neue Nähe. Durch den gegenseitigen, liebevollen, ehrlichen Austausch lässt sich selbst unstillbare Sehnsucht leichter ertragen.

 Abbildung: © pexels.com/Khoa Vö