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Sein oder Nichtsein

Leben auf der Probebühne

Ein Schauspieler erzählt von der Inszenierung des monumentalen Shakespearedramas "Hamlet, Prinz von Dänemark" im Jahr 1999 durch den Starregisseur Peter Zadek. Zadek hatte dafür die besten Schauspieler des deutschen Sprachraums um sich versammelt. Eine Besonderheit dieser legendären Inszenierung war die Besetzung der Titelrolle mit einer Frau, nämlich Angela Winkler. Der Autor, selbst Mitglied des Ensembles, reiht tagebuchartig Episode an Episode, teils humorvoll, teils ernst bis hin zu alltäglichen Dramen menschlichen Lebens. Dabei werden die Eigenheiten und Verrücktheiten des Starensembles offenbar, wie sonst eigentlich nur auf der Bühne vor Zuschauern. Im Klappentext des Buches heißt es dazu: »Es ist und bleibt ein großes Geheimnis: Wie entsteht ein Kunstwerk? Klaus Pohl ist es mit seinem grandiosen Roman Sein oder Nichtsein gelungen, diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen.«



Doch ganz so einfach ist es für mich nicht, einem wirklich großen Kunstwerk auf die Spur zu kommen. Dazu lässt das Buch den Leser mit zu vielen Fragen zurück, mit zu vielen Anspielungen, mit zu Vielem, das im Vagen bleibt, mit zu vielen bewussten Irreführungen oder Verirrungen in Details. Und schließlich ist es die Perspektive des Autors, die eine allgemeingültige Anwort auf die Frage, wie ein Kunstwerk entsteht, nicht zulässt. Denn im Wesentlichen nimmt er Angela Winkler, vor allem aber Ulrich Wildgruber ins Visier. Deutet er zu Beginn seines Romans – oder ist es vielleicht doch eine Dokumentation? – an, dass ihn Ulrich Wildgruber bei seinen Anfängen auf der Bühne nicht besonders beachtete, hatte ich, je mehr ich mich in den Text vertiefte, das Gefühl, es handle sich dabei um eine Hommage an den großen Schauspieler, der im November 1999 den Freitod wählte.

 

»Die Arbeit des Schauspielers an der Rolle« (Stanislawskij)

Ich bekam das Buch von einer Freundin geschenkt, die weiß, dass ich in meinen jüngeren Jahren selbst dem Theater verhaftet war, wenngleich nur dem Amateurtheater. Immerhin habe ich freiberuflich darin gewirkt, und dennoch kam mir manches im Buch sehr bekannt vor. Zumal die Auseinandersetzung oder phasenweise die Hassliebe zwischen Schauspieler und Regisseur. Besonders drastisch waren solche Auseinandersetzungen zwischen Rainer Werner Fassbinder und seinen Schauspielern, wie der Film »Ein Mann wie Eva« aus dem Jahr 1983 zeigt, in dem Eva Mattes, auch Mitglied des Hamlet-Ensembles, damals die Rolle von Fassbinder gespielt hat. Für Eva Mattes gibt es, wie Pohl schreibt, nur zwei große Regisseure, eben Fassbinder und Zadek.

Lustig und charakterisierend sind die kleinen Geschichten am Rande, so zum Beispiel die Behauptung, Fassbinder, der Zadek auch sehr ergeben gewesen sei, habe sich einen Hund zugelegt, den er Zadek genannt habe. Fassbinder sei im Bochumer Theater dem Hund hinterhergerannt und habe gerufen: »Zadek, hierher!«, oder: »Zadek, sitz!«. Auch dies eine Art, wie man als Schauspieler die psychologisch-traumatischen Erlebnisse mit einem sogenannten Starregisseur verarbeiten kann.

Eindrucksvoll beschreibt der Autor auch die kleinen und großen Fluchtversuche, sich dem Einfluss des Regisseurs zu entziehen, hier vor allem die Widerstände Angela Winklers, die nicht nur mit den Textmengen, die sie als Hamlet memorieren musste, zu kämpfen hatte. Angela Winkler ist nicht umsonst eine der bedeutendsten deutschen Schauspielerinnen der Gegenwart. 

 

Theater heißt »das Anschauen, die Schau, das Schauspiel«

Eindrucksvoll auch die ungebrochen kindliche Hoffnung Wildgrubers, die er während der gesamten Inszenierung hegt, vielleicht doch noch die Rolle des Hamlet von Zadek angeboten zu bekommen, die er in Bochum seinerzeit grandios verkörperte. Und Eindrucksvoll auch die nur kursorisch angedeutete diktatorische Arbeit des Regisseurs, dem sich die Schauspieler sozusagen mit Haut und Haaren ausliefern.

Theater – verwandt mit dem altgriechischen Verb theaomai, das sich mit sehen, anschauen übersetzen lässt – besagt, dass dem Zuschauer ein Blick in die Seele des Schauspielers gewährt wird. Und das sind die Momente, die in der Vergänglichkeit des Theaters beim Zuschauer im Gedächtnis bleiben, weil dieser Blick so unmittelbar ist, stärker und intensiver als es jeder Film kann, der lediglich Medium ist, nicht unmittelbar. In Michael Tschechows Buch »Werkgeheimnisse der Schauspielkunst« heißt es: Schauspielkunst ist »Spähen hinter den Vorhang des schöpferischen Prozesses«. Tschechow, der selbst viele Jahre unter anderen mit Stanislawskij und Vachtangov zusammengearbeitet hatte, unterrichtete später viele bedeutende Schauspieler, so zum Beispiel Yul Brynner.

 

Fazit

Als Mensch, dem über viele Jahre seines Lebens Theater alles war und der selbst vor vielen Jahren ein Buch dazu geschrieben hat – Theaterspielen. Lese- und Arbeitsbuch für Spielleiter und Laienspielgruppen –, kann ich das Buch von Klaus Pohl nur empfehlen. Es ist nicht das Buch, in dem es um Leben und Tod geht – wenngleich der Suizid Wildgrubers nicht ausgespart bleibt –, das Buch, das komisch, tragisch und zu Tränen rührt, wie Christian Berkel auf dem Cover zitiert wird, sondern es ist ein Buch, das Leben abbildet, Leben als Probe für den Ernstfall, Leben mit allen Facetten, verdichtet in der Mitteilung des Geistes in Hamlet, die heute noch so aktuell wie zu Shakespears Zeiten war: »The Time ist out of joint: Die Zeit ist aus den Fugen ...« Das Buch ist für jeden ein Gewinn, es liest sich leicht und ist dennoch gewichtig ...

 

Klaus Pohl: Sein oder Nichtsein. Roman. Galiani Verlag. Berlin 32021. 287 Seiten.

ISBN 978-3-86971-243-7. LP 23,00 €

Klaus Pohl, geboren 1952 in Rothenburg ob der Tauber, lebt in New York, Berlin und Wien. Er schreibt Theaterstücke, Drehbücher, Essays, Reportagen und Romane.

Josch 23.03.2022, 11.02

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