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Vergessen tötet die Toten noch einmal

Tramhalte Beethovenstraat

Andreas, Verfasser zweier Gedichtbände und einer Novelle, entkommt 1942 dem Braunen Moloch, weil ihn ein Stabsarzt kriegsverwendungsunfähig schreibt. Er wird als Berichterstatter einer Zeitung nach Amsterdam geschickt. Von seinem Zimmer in der Beethovenstraat aus beobachtet er, wie jede Nacht vierhundert Juden abtransportiert werden: „… es war Punkt zwei; er machte das Licht aus, lief zum Fenster und riss es auf. Unten standen vier Trambahnen mit je einem Anhänger, dahinter bewegte sich eine dunkle Masse, einige hundert Menschen mussten es sein; fahle Gesichter im Schein der blauen Taschenlampen, die von Jungen mit weißen Armbinden gehalten wurden. An den Flanken standen ein paar Uniformierte (Soldaten, Polizisten?) mit großen Schäferhunden an kurzen Leinen.“



Wendepunkte

Die Deportationen lösen in Andreas Alpträume aus, und er sucht den jüdischen Arzt Dr. Rosenbusch auf, der ihn von seinen „Halluzinationen“ befreien soll. Bei diesem Besuch lernt Andreas David kennen, den siebzehnjährigen Sohn der Rosenbuschs. David, der wie ein Araberknabe aussieht, von „unvorstellbarer Schönheit“ und mit „schwermütigen Tieraugen“, lässt ihn nicht mehr los. Eigentlich will er, dass Dr. Rosenbaum seinen Sohn sofort zu ihm schickt, damit er ihn vor dem Tod bewahren kann. Doch David weigert sich. Er will seine Rettung keinem Deutschen verdanken wollen. Als die Rosenbuschs eines Nachts an der Tramhalte Beethoovenstraat verladen werden, kann David fliehen, und Andreas nimmt ihn bei sich auf.


Widerstand, der dem Leben Sinn gibt

Andreas, der in München in einem großen Haus aufgewachsen ist, teilt sich nun sein Zimmer in der Beethovenstraat mit Sabine Lisser, einer Fotografin, die er auch versteckt, und David. David gilt ab diesem Zeitpunkt seine ganze Sorge. Aber „noch weiß Andreas es nicht, weiß es ebensowenig wie die der Bombe entronnenen Opfer von Hiroshima, dass sie, die mit dem Leben Davongekommenen, der Vernichtung bestimmt sind“. Doch Daniel hält es nicht aus, Tage und Nächte auf unbestimmte Zeit in einem Zimmer eingesperrt zu sein. Eines Tages lässt er sich die Haare blond färben und arbeitet mit Miep, der Tochter der Zimmerwirtin, zusammen in einer Widerstandsgruppe mit. Andreas sieht ein, dass er David nicht zurückhalten kann. Es kommt, wie es kommen muss. David wird ergriffen und nach Mauthausen deportiert.


Ein Schriftsteller, der nicht schreibt

Nach dem Krieg heiratet Andreas Susanne, eine Cousine Davids. Sie überredet ihn, nach München zu ziehen, weil sie findet, dass ein deutscher Dichter in deutscher Umgebung leben muss. „Susanne konnte es sich leisten, ihm die materielle Sicherheit zu geben, die ihrer Ansicht nach ein Künstler brauchte. Das Vermögen ihrer vergasten Eltern war enorm und sie die einzige Erbin.“ Doch an Susanne klebt der Makel des Verrats. Sie hatte einem SD-Mann die Adresse der holländischen Familie gegeben, die Susanne unter Lebensgefahr versteckt hatte. Und Andreas schreibt nicht. 


Die innere Leere füllen

Andreas lässt das Schicksal dieser Jahre nicht mehr los. Viele Jahre nach dem Krieg fährt er noch einmal nach Amsterdam. Er macht eine Therapie, die Susanne bezahlt, und er fährt nach Mauthausen. Auf der Fahrt „war er an einem Steinbruch vorbeigefahren, der aussah wie alle anderen Steinbrüche. Man kann einem Steinbruch nicht ansehen, ob in ihm gemordet wurde, man sieht nur, dass Steine gebrochen wurden“.

Nichts kann Andreas' innere Leere füllen, nichts kann seinem Leben Sinn geben. Er wird die Schrecken, die mit der Tramhalte Beethovenstraat ihren Ausgang genommen haben, nicht mehr los, im Gegensatz zu den Tätern und Mitläufern, die nun sagen: Nie wieder, und damit gut leben können. „Die Gemordeten hatten das Geheimnis und das ihrer Mörder mit sich genommen.“


Fazit

Was den autobiografisch gefärbten Roman so besonders macht, ist der konsequente Blick auf die Gefühle, die solches Erleben auslöst, das Trauma, das einfach nicht gelöst, geheilt werden kann. Was der Protagonist erlebt, bestimmt sein ganzes weiteres Leben. Jeder Gedanke ist wie ein sezierender Schnitt, der immer wieder das Grauen vor Augen führt.

Die Neuauflage dieses 1963 erschienenen Romans zeigt das feine Gespür dieses wunderbaren Verlags für Zeit und Zeitgeschichte. Wie wichtig Grete Weils Roman gerade heute ist, belegt Juna Grossmanns Buch „Schonzeit vorbei“, das 2018 im Droemer Verlag erschienen ist und über das Leben mit dem täglichen Antisemitismus berichtet.

Grete Weil, geboren 1906 in Rottach-Egern, gestorben 1999 in Grünwald, Geschwister-Scholl-Preis-Trägerin 1988 für ihren Roman „Der Brautpreis“, studierte Germanistik, überlebte die Judenverfolgung in einem Versteck in den Niederlanden, war Schriftstellerin, Übersetzerin und freie Rundfunkmitarbeiterin.

Grete Weil: Tramhalte Beethovenstraat. Verlag das kulturelle Gedächtnis. Berlin 2021. 192 Seiten. Leinen. LP 22,00 € ISBN 978-3-946990-53-6

Josch 24.05.2021, 18.04

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