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Ein anderes Land

Porträt einer Gesellschaft, die ins Rutschen geraten ist

James Baldwin ist einer der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. „Warum James Baldwin lesen, heute, dreißig Jahre nach seinem Tod?“, fragt Verena Lueken in ihrem Vorwort zu Baldwins Roman Von dieser Welt. Und sie gibt die treffende Antwort: „Wer einmal einen Satz von ihm laut aufgesagt hat, wird die Frage überflüssig finden.“ Genauso ging es mir, als ich die neue Übersetzung von Ein anderes Land gelesen habe. Es ist ein unglaublich tief berührender Roman, der einen hineinzieht in die „rassistisch gespaltene US-amerikanische Gesellschaft der Fünfzigerjahre“, wie René Aguigah im Nachwort des Buches ausführt.



Der Roman konfrontiert aber auch mich selbst mit meinem Rassismus, einem Rassismus, den man als Mensch weißer Hautfarbe lebt, ohne darüber nachzudenken. Zum ersten Mal wurde mir diese Problematik durch Chimamanda Ngozi Adichie bewusst, die ihrer schwarzen Romanfigur in Americanah in den Mund legt, ihr sei erst in Amerika bewusst geworden, dass sie schwarz ist. Solange sie in Nigeria lebte, wusste sie nicht, dass sie schwarz ist. Mit seinem Roman Ein anderes Land geht James Baldwin noch einen gewaltigen Schritt weiter.


Die unüberbrückbare Kluft

Rufus, ein Schwarzer Jazzsaxofonist aus Harlem, springt von der Washington Bridge in den Tod. Seine Freunde, allesamt Weiße, fragen sich, was wohl der Grund für seinen Selbstmord gewesen sein mag. Die einfachste Antwort, die sie sich vorschnell geben, ist, dass es sicher mit seiner Weißen Freundin Leona zu tun habe, die an den Misshandlungen und der Gewalt durch Rufus psychisch zugrunde ging, in die Psychiatrie eingeliefert und schließlich von ihren Südstaaten-Verwandten nach Hause geholt wurde. Doch seine Freunde, Bohemiens aus Greenwich Village, verstehen den wahren Grund des Suizids nicht, weil sie Weiße sind. Lediglich Vivaldo, Rufus engster Freund, bekommt durch seine Liebesbeziehung zu Ida, Rufus' hübscher Schwester, die Vivaldo mit Ellis, einem Filmproduzenten, betrügt, eine leise Ahnung von der kulturellen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Kluft, die die Schwarzen und Weißen voneinander trennt.

Der Roman mit seinem überschaubaren Figurenarsenal ist eine präzise und detaillierte Schilderung dessen, was Menschen im Tiefsten antreibt, wie sie fühlen und an sich selbst und den Mitmenschen leiden. Er zeigt seine Romanfiguren als hetero- und homosexuelle Wesen, mit ihrem heimlichen und offenen Begehren, mit ihrer Leidenschaft und Hingabe. Er zeichnet aber auch ein Bild davon, wie wahre Liebe aussehen könnte, und zwar am Beispiel von Eric und Yves. Eric, der wegen seiner sexuellen Beziehung zu Rufus nach Frankreich geflüchtet ist, und aufgrund eines Engagements am Broadway wieder nach New York zurückkommt, lässt sich zwar mit Cass, der Frau von Richard, auf eine kurze Affäre ein, doch Erics wahre Liebe ist Yves, mit dessen Ankunft in New York der Roman endet.

Übrigens soll sich der Erfolg des Buches nach seinem Erscheinen auch den offenen Schilderungen der erotischen Szenen verdankt haben, was ein weiteres Defizit der voyeuristischen Weißen Gesellschaft zeigt.


Was große Literatur auszeichnet

Am tiefsten berührt hat mich Ida mit ihrer Beichte, als sie Vivaldo gesteht, dass sie ihn mit Ellis betrogen hat. Es war nicht der formale Vorgang des Bekenntnisses, sondern die Tragik des Anders-Seins, das mit diesem Bekenntnis zum Ausdruck kommt. Und es zeigt mir, wie sehr sich mein Weißen-Denken von der Schwarzen-Realität unterscheidet.

Der Roman beschreibt „die Kluft zwischen races bei gleichzeitiger Verwicklung miteinander“, so René Aguigah im Nachwort. Und ich darf noch einmal an das oben zitierte Vorwort von Verena Lueken anknüpfen: Nicht erst die Tötung Georg Floyds am 25. Mai 2020 in Minneapolis zeigt, wie aktuell nach wie vor James Baldwin ist. Große Literatur zeichnet sich dadurch aus, dass sie nie wie etwas längst Vergangenes daherkommt. „Wenn wir Baldwin lesen, haben wir den Eindruck, mit einem Zeitgenossen im Gespräch zu sein. Einem Zeitgenossen, der davon erzählt, was es heißt, als Afroamerikaner in der Diaspora zu leben“, so Verena Lueken.

Bleibt die Frage, warum eine Neuübersetzung der Werke, die ja schon seit sechzig Jahren auf dem Markt sind und die ja die Welt kennt. Ganz einfach: Weil sich unser Denken und damit unsere Sprache verändert hat. Wenn in den alten Übersetzungen vielfach kein Unterschied zwischen Colored, Negro und Black gemacht wurde, so ist das eine der großen Leistungen von Miriam Mandelkow, die der Verlag für die Neuübersetzung gewinnen konnte, hier sehr differenziert mit den Begriffen umzugehen. Das Werk knüpft damit an Raol Pecks Film über James Baldwin an: I am not your negro, der 2017 erschien und einen Ausspruch Baldwins aufgriff: „I am not your negro, I am a man.“

Ich kann den Roman nur jedem empfehlen. Er betrifft nicht nur Menschen, die sich für Amerika interessieren, er betrifft jeden, zumal sich in unserer gegenwärtigen Gesellschaft ein Rassismus sogar in politischen Parteien etabliert und die Gesellschaft vergiftet und zerreißt. Ich habe mir vorsorglich gleich noch „Von dieser Welt“ und „Giovannis Zimmer“ gekauft.

James Baldwin, geboren am 2. 8. 1924 in New York, gestorben am 1. 12. 1987 in Saint Paul de Vence (Frankreich).

Miriam Mandelkow, geboren 1963 in Amsterdam, lebt in Hamburg. Die Lektüre der Werke von James Baldwin haben sie, wie sie sagt, zum Studium der Amerikanistik inspiriert. Für ihre Neuübersetzungen der Werke von James Baldwin wurde sie mit dem Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis ausgezeichnet.

James Baldwin: Ein anderes Land. Aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow. dtv Verlagsgesellschaft. München 2021. 573 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag. ISBN 978-3-423-28268-0. LP 25,00 €

Josch 24.06.2021, 12.26

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