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Frisches oder altbackenes

„Dein Text ist mir nicht frisch genug!“

Neulich sollte ich für ein Magazin einen Artikel über ein Buch zur Kindererziehung schreiben, in dem es ums Schimpfen in der Erziehung geht. Da ich selbst Vater bin und zu der Fraktion gehöre, die leicht laut wird, fand ich das Thema sehr interessant und war ganz neugierig, was die Autorin wohl empfehlen würde. Also machte ich mich über das Buch her und schrieb den Artikel. Ich war ganz zufrieden mit meinem Text und schickte ihn an die Redakteurin. Schon zwei Tage später schickte sie mir den stark überarbeiteten Beitrag mit dem Kommentar zurück, dass er zu wenig frisch gewesen sei und sie ihn deswegen so gut wie neu geschrieben habe. Da war ich zuerst ziemlich verwirrt, weil ich nicht wusste, was das Adjektiv „frisch“ in Bezug auf einen Text bedeuten soll. Wird das Eigenschaftswort frisch doch eher im Zusammenhang mit Lebensmitteln, mit dem Wetter, im Sinne von neu, gerade, soeben verwendet, z.B. die Wäsche ist frisch gewaschen, der Käse ist ganz frisch, auch in Bezug auf Erinnerungen kann man von frisch sprechen, eine Wunde ist frisch, das Wetter, das Aussehen, das Bett kann frisch bezogen sein usw. Aber ein Text? Kann der auch frisch oder vergammelt, alt sein? Und kann etwas zu wenig frisch sein, also nur ein bisschen frisch, ansonsten aber nicht so knackefrisch wie ein Salat im Naturkostladen?



Verschlimmbesserungen

Nun bin ich es aus meiner über vierzigjährigen Arbeit als Lektor und Redakteur gewohnt, dass man Texte stilistisch bearbeitet, verändert, sie eben lektoriert bzw. redigiert. Warum sollte mein Text also nicht auch redigiert werden? Zudem hänge ich in den allermeisten Fällen nicht an meinen Formulierungen und bilde mir auch nicht ein, dass ich ein Großmeister der Formulierungskunst wäre. Nur wenn der Text „verschlimmbessert“ wird, dann habe ich etwas gegen Bearbeitungen. Und das kommt leider häufiger vor als man glaubt.

Um Verschlimmbesserungen handelt es sich dann, wenn zum Beispiel der flüssige Verbalstil in einen pfurztrockenen Nominalstil umgetextet wird, wenn unnötige Denglischformen  oder umständliche neue Begriffskonstrukte verwendet werden, für die es auch herkömmliche und von der Dudenredaktion noch nicht ausrangierte Begriffe und Wörter gibt. Ich habe das Thema schon vor mehr als einem Jahr auf meinem Blog thematisiert (https://www.einfach-zum-nachdenken.de/kommentare/sprachmarotten....182).


Stilistisches Handwerkszeug

Was mir aber wirklich sehr zu schaffen machte, war das für mich vernichtende Urteil, der Artikel sei „nicht frisch genug“ gewesen sei. Ich  habe mir gedacht: Aha, ich schreibe also altbacken, mein Stil ist nicht mehr zeitgemäß. Die Überlegungen haben eine mehrtägige Schreibblockade ausgelöst. Erst als ich mir meinen Text und die Neufassung noch einmal angesehen und sie verglichen habe, sagte ich mir: Blödsinn! Offenbar muss sich die Redakteurin noch profilieren. Denn stilistisch ist Ludwig Reiners Stilkunde, die er vor fast 70 Jahren geschrieben hat, immer noch ziemlich frisch, auch Bastian Sicks Reihe „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ oder Wolf Schneiders „Gewönne doch der Konjunktiv“ oder „Deutsch für Kenner“ oder auch Andreas Thalmayrs „Heraus mit der Sprache“ (Pseudonym von Hans Magnus Enzensberger) oder Dieter E. Zimmers „Sprache in Zeiten ihrer Unverbesserlichkeit“ oder Thomas Steinfelds „Der Sprachverführer“. Die Liste ließe sich beliebig erweitern. Die genannten Sprachkritiker haben es mir angetan. Ich lese seit vielen Jahren in diesen Büchern und entdecke immer wieder, wo ich mich noch verbessern könnte/müsste. Und ich denke mir oft bei der Lektüre eines Buches oder Artikels, dass der Verfasser gut daran getan hätte, wenn er sich ein bisschen mit Stilkunde beschäftigt hätte.


Atemlos in der Schreibstube

Im Grunde genommen weiß ich wirklich nicht, was mit der Formulierung (heute würde mancher Werbetexter statt Formulierung wording sagen, weil es so hip klingt) frischer oder wärmer oder dunkler gemeint ist. Was eine aus der Mode gekommene oder veraltete, eine flache oder harte oder ungenaue Formulierung ist, das verstehe ich. Nun glaube ich nicht, dass meine Sprache aus der Zeit gefallen ist, wie würde mich sonst zum Beispiel mein Sohn verstehen, der 50 Jahre jünger ist als ich. Und wir reden sehr viel miteinander.

Eine Freundin, der ich von dem Vorfall erzählte, selbst sehr erfolgreiche Autorin mit einer Gesamtauflage von weit über drei Millionen Sachbüchern, fragte mich, warum ich solche Aufsätze überhaupt schreibe? Ich müsste es doch besser wissen. Schließlich habe ich einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Bücher redigiert. Das konnte mich Gott sei Dank mit meiner Auffassung von flüssigem, lebendigem Schreibstil versöhnen. Für den einen schreibe ich altbacken, für den anderen warm oder zu wenig frisch. Und ganz egal, ob frisch oder altbacken: lebendig und korrekt sollte das „wording“, pardon die Formulierung schon sein.

Wenn du meine Texte auch zu wenig frisch empfindest, dann schreib mir bitte. Ich würde mich darüber sehr freuen. Nur durch Kritik lernt man dazu.

Abbildung © pexels.com

Josch 12.07.2019, 17.45

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Kommentare zu diesem Beitrag

1. von Gudrun Kropp

... also die angeführte Redewendung kenne ich nicht, eher würde ich sagen, statt "frisch", "erfrischend". Ein Text der nicht frisch sein soll, ist sehr seltsam formuliert - den Begriff würd ich auch eher auf Lebenmittel anwenden. Aber diesen Text, den du hier verfasst hast, finde ich sehr locker und vor allem ehrlich und somit einfach erfrischend ...

vom 15.07.2019, 10.14
Antwort von Josch:

Vielen Dank für deinen erfrischenden Kommentar. Natürlich ist man immer gefordert, nicht altbacken zu formulieren. Und das ist keine erfrischende, sondern eine mühsame Angelegenheit. In diesem Sinne ...
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