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Kann wahre Freundschaft wanken?

In den letzten Wochen habe ich mich aufgrund einer schmerzlichen Erfahrung mit dem Wesen von Freundschaft auseinandergesetzt. Nun ist dies nichts Ungewöhnliches, da es meines Erachtens für die „soziale Hygiene“ notwendig ist, sich selbst und auch seine Freundschaften und Beziehungen immer wieder einmal zu hinterfragen. Und bei dieser Gelegenheit musste ich innerlich die Freundschaft zu einer Frau aufkündigen, von der ich den Eindruck hatte, dass sie an mir und meiner Person kein Interesse mehr hatte. Keine Unternehmung, keine Ausstellung, kein Essen, kein Film, kein Buch. Alles, was ich vorschlug, versandete. Und eines Tages wachte ich auf und wusste, dass mich diese Freundschaft mehr belastet als beflügelt.



Beim Reflektieren über Freunde und Bekannte wurde mir dann bewusst, dass ich nur drei sehr enge Freunde bzw. Freundinnen habe, auf die ich mich seit mehr als 30 Jahren absolut verlassen kann. Wir sind füreinander da, wenn wir uns brauchen. Echte Freundschaft lebt m. E. vom konstruktiven Auf-den-anderen-Zugehen, von Vertrauen, Verständnis und Hilfsbereitschaft, von gemeinsamen Interessen und Erlebnissen, von ähnlicher politischer Gesinnung, von vergleichbaren Erfahrungen, von ideellem Austausch, von Teilen (nicht zu verwechseln mit dem Teilen auf Facebook). Teilen kann in einer von Gier geprägten und von grenzenlosem Wohlstand zerrütteten Welt einen wahren, unvergleichlichen Glückszustands auslösen. Nicht zu vergessen ist die Zeit, die man einander schenkt, banal gesagt: füreinander da sein, auch wenn man viele Kilometer voneinander entfernt lebt.

Beim Teilen denke ich mit Erbitterung an die „Freundschaft“ zu der jungen Frau, von der ich mich im Nachhinein massiv ausgebeutet fühle, nicht im materiellen, sondern im ideellen Sinne. Ich ärgere mich aber vor allem über mich selbst, weil ich das ungleiche Spiel mitgemacht habe. Es ist unproduktiv, die Schuld in so einem Fall bei anderen zu suchen. Dass es so kam, wie es gekommen ist, daran habe ich einen großen Anteil. Es ist auch meine Schuld.

Ich fragte mich auch, ob ich eventuell einen zu hohen Anspruch an wahre Freundschaft habe. Ob ich mich in diesem speziellen Fall vielleicht darin gesonnt habe, eine junge Frau zu meinem Freundeskreis zählen zu können. Ein Bekannter hatte mich sogar gewarnt: Er glaube, dass es keine Freundschaft zwischen einem Mann und einer Frau geben könne. Es würde dabei notgedrungen immer auch Erotik und Sexualität eine Rolle spielen, was aber bei besagter Freundin und mir nicht der Fall war. Und dann überlegte ich mir, was eigentlich die prägenden Bilder für meinen Anspruch an eine Freundschaft sind, und da fielen mir mein Vater und sein Freund ein:

Immer um den 2. Februar herum bekam mein Vater Besuch von Simon und seiner Frau. Schon als kleines Kind war mir Simon vertraut, obwohl ich nicht wusste, was es mit diesem Besuch auf sich hatte. Ich wunderte mich nur über Simon, weil er offenbar nicht wie all die anderen Menschen, die uns regelmäßig besuchten und denen wir Gegenbesuche abstatteten, zu unserer Verwandtschaft gehörte. Simon und seine Frau saßen bei meinem Vater im Wohnzimmer, während meine Mutter abwechselnd mit dem Servieren von Kaffee und Kuchen beschäftigt war. Dazwischen setzte sie sich immer wieder zum Besuch dazu. Und dann redeten die Frauen miteinander, während Simon und mein Vater still dasaßen, zuhörten, sich von Zeit zu Zeit ansahen, lächelten und geheimnisvoll nickten. Was mich damals als Kind schon faszinierte, war diese stille Zufriedenheit der beiden Männer. Dass sie sich offensichtlich gut verstanden, ohne viel miteinander zu reden, das spürte sogar unser eigentlich sehr nervöser Hund. Er lag nämlich schnarchend neben dem Gast meines Vaters.

Erst viele Jahre später, da war mein Vater längst tot, lüftete meine Mutter das Geheimnis, das meinen Vater und Simon umgab: Die beiden hatten sich in einem Kriegsgefangenenlager kennengelernt, in dem sie interniert waren. Mein Vater war für die Verteilung des Essens zuständig, das meist aus einer dünnen süßen Brühe bestand, mehr Wasser als Suppe, mit ein paar Scheiben Roten Beeten darin. Meinem Vater war der bis auf die Knochen abgemagerte Mann aufgefallen, der den gleichen Dialekt wie er sprach. Sie kamen ins Gespräch, und mein Vater gab ihm von seiner Suppe ab, die ihm unerträgliches Sodbrennen bereitete. Um dem Tagesablauf, der von Angst und Leere, von Hoffnung und Depression geprägt war, Struktur zu geben, lernten sie mit einem anderen Gefangenen Französisch. Sie stützten und halfen sich gegenseitig in ihrer nahezu alles überbordenden Furcht, nie mehr zu ihren Familien zurückkehren zu können. Täglich brachen Kameraden zusammen oder starben vor ihren Augen. Erst nach über neun Monaten wurde das Lager aufgelöst, und die beiden konnten miteinander in einem Güterzug den Heimweg antreten.

Simon und Joseph hatten sich in einer existenziell äußerst kritischen Situation kennengelernt. Diese Erfahrung schweißte sie für immer zusammen. Simon erwähnte meiner Mutter gegenüber einmal, er verdanke meinem Vater sein Leben. Die beiden waren am 2. Februar 1946 aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause gekommen. Simon war der einzige richtige Freund, den mein Vater nach dem Krieg hatte. Die beiden aber feierten ihre Freundschaft wie ein Fest der Wiedergeburt. Sie waren bis zu ihrem Tod miteinander befreundet. Mein Vater hat nie von seinem Freund gesprochen, er hat nie etwas von den Umständen erzählt, wie sie sich kennengelernt haben, was die Freundschaft zu Simon für ihn bedeutete. Ich erfuhr alles über diese besondere Beziehung von meiner Mutter. Meinem Vater reichte offensichtlich dieser Freund. Mit ihm verband ihn eine existenzielle Grenzerfahrung. Sie waren einander vertraut, sie schätzten und respektierten sich. Wie ich heute weiß, lebten beide sehr unterschiedlich. Ob sie die gleichen persönlichen Interessen oder ähnliche politische Überzeugungen vertraten, weiß ich nicht. Und dennoch verstanden sie sich, dennoch mochten sie sich, dennoch konnten sie aufeinander zählen. Meine Mutter erzählte mir, dass sie sich oft schrieben, dass es aber mehr gewesen sei als eine sogenannte Brieffreundschaft. Sie hatten einmal die Erfahrung gemacht, dass sie sich auf den anderen verlassen konnten, egal, was passiert, und das hat sie zusammengeschweißt.

„Die Freundschaft kann den Tod bestehen“, heißt es in einem Theaterstück, in dem ich in meiner Jugend mitgespielt hatte. Und in der Bürgschaft von Schiller wünscht sich der König, Freund der beiden Freunde zu sein: „...Ich sei, gewährt mir die Bitte, in Eurem Bunde der dritte!“

Ich bin überzeugt davon, dass wir nur überleben können, wenn wir echte, gute, tiefe Freundschaften pflegen und damit unseren Kindern Vorbild sind. Nur so können wir Werte tradieren, die uns zu sozialen, humanen Wesen machen. Es lohnt sich jedenfalls, wieder einmal über unsere Freunde nachzudenken und dankbar dafür zu sein, dass es sie gibt. Und das sollten wir ihnen auch immer wieder einmal sagen.

Josch 06.07.2016, 14.24

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Kommentare zu diesem Beitrag

2. von Avak

Eine sehr gute Freundin hat mich mal wieder versetzt, so nutze ich die Zeit, meine Erfahrungen mit Freundschaften mit Ihnen zu teilen:

Als ich mit 20 Jahren in Deutschland ankam, kannte ich keine Menschenseele hier und sprach kein einziges Wort Deutsch. In einer solchen Situation ist es wahrlich schwer, echte Freundschaften zu schließen (trotzdem habe ich noch Freunde aus der Zeit). Damals war ich heilfroh, Menschen kennenzulernen, die es einfach nur ehrlich mit mir meinten und mich darin unterstützten, langsam hier Fuß zu fassen. Die einfachsten Dinge, wie U-Bahn fahren, ein Formular ausfüllen oder einen Arzttermin vereinbaren, wollten gelernt sein – wie machst du's als (traumatisierter) Grünschnabel in einem völlig fremden Land ohne Hilfe von außen?

In den folgenden Jahren sind mir gute/echte/wahre Freundschaften immer mehr zu einer Lebensnotwendigkeit geworden; und dies hat es meinen Freunden teilweise erschwert, Freunde zu bleiben. Meine Erwartungshaltung war hoch und der Druck, den meine Freunde verspürten, entsprechend groß. Ich hatte keine Familie hier und wollte, dass mir die Freunde auch diese Lücke schließen. Langer Rede, kurzer Sinn: In den letzten 32 Jahren habe ich wirklich sehr sehr viele – teilweise schmerzliche – Erfahrungen mit Freunden und Freundschaften gemacht. Was ich daraus gelernt habe, und wie ich es heute handhabe?

Die Antwort hat viel mit meiner persönlichen Definition von Liebe und Toleranz zu tun. Nehme ich jemanden nicht so an, wie er ist, mit all seinen Schwächen, Ecken und Kanten, dann liebe ich ihn nicht. So einfach ist es für mich. Überwiegen die Eigenschaften, die ich mag, ist mir die Beziehung zu diesem Menschen sehr wertvoll. Ich selbst bin kein einfacher Mensch und wünsche mir ja auch, angenommen zu sein.

Und was ist Toleranz? Bin ich tolerant, wenn ich Menschen aus anderen Kulturen (ha, ha – ich fühle mich schon total deutsch) gern in meiner Nachbarschaft sehe? Nein, denn das fällt mir ganz und gar nicht schwer – im Gegenteil: je bunter, umso schöner. Tolerant bin ich, wenn ich meinen Nachbarn weiterhin freundlich grüße, OBWOHL er immer mehr und immer offensichtlicher mit Pegida und anderen rechtsextremen Strömungen in der Gesellschaft sympathisiert. Tolerant bin ich erst, wenn ich ihn respektiere und auch akzeptiere, dass er anders denkt und fühlt als ich. Und puh, das ist schwer!

Die ganz oben erwähnte Freundin sagt neun von zehn Verabredungen sehr kurzfristig ab. Sie schafft es sogar, um 16 Uhr die Abendessen-Einladung für 19 Uhr abzusagen, weil es ihr sonst zu viel werden würde. Früher hätte ich das nicht lange mitgemacht; ich hätte es als respektlos empfunden und womöglich irgendwann die Freundschaft aufgekündigt. Heute weiß ich, dass es nichts mit mir zu tun hat; sie ist so. Und für sie ist es sehr schön, wenn man sie so nimmt und keine Staatsaffäre aus jeder Absage macht. Unsere Freundschaft hat so viele großartige und wertvolle Aspekte, die ich auf keinen Fall verlieren möchte. Sie bleibt eine sehr gute Freundin, und ich freue mich, wenn eine von zehn Verabredungen zustandekommt, und ich sie wiedersehen kann.

Ich habe Freunde, die Ausländer nicht mögen, andere, die nie anrufen, wieder andere, die Atheisten sind und mit meinem Glauben nichts anfangen können. Ich liebe sie trotzdem alle, und bin froh, dass sie mich auch. Ich will sie nicht verlieren, und ich würde für sie durchs Feuer gehen. Sie für mich auch.

Es gibt da noch etwas: Manchmal ist eine Freundschaft einfach zu Ende. Man ist ein Stück des Weges gemeinsam gegangen, und irgendwann hat man sich nichts mehr zu sagen. Da geht die Freundschaft auseinander. Wenn es wirklich so ist, tut es aber NICHT weh. Dies ist für mich der Indikator, ob ich jemanden ganz entspannt wieder loslassen und weiterziehen lassen soll. Tut es weh, lohnt es sich, mich damit auseinanderzusetzen.

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Dies ist nun ein sehr persönlicher und ausführlicher Kommentar geworden; ich hoffe, das ist für Sie in Ordnung. Ihren Beitrag habe ich gleich nach dem Erscheinen gelesen und seither denke ich intensiv darüber nach. Danke für diesen Gedankenanstoß und die Gelegenheit, mal über Werte nachzudenken, die im Alltag zu Selbstverständlichkeiten werden.


vom 09.07.2016, 09.40
Antwort von Josch:

Ich freue mich sehr über diesen wunderbaren Kommentar. Die Länge des Kommentars spielt keine Rolle. Als letztes Jahr in mir der Plan reifte, unter die Blogger zu gehen, hatte ich insgeheim den Wunsch, dass die Beiträge zu allen möglichen Themen einen regen Gedankenaustausch anstoßen könnten.
Zum Inhalt Ihres Kommentars: Sie haben, bedingt durch Ihre spezielle "Geschichte", ganz andere Erfahrungen mit Freundschaft und Beziehungen gemacht als ich, vielleicht sollte ich sagen, nicht andere, sondern eben Ihre eigenen, ganz subjektiven Erfahrungen. Ihre bewunderungswürdige Toleranz macht Sie zu einem ganz besonderen Menschen, oder anders ausgedrückt: Ein Mensch, der Sie zu seiner Freundin zählen darf, kann sich wirklich glücklich schätzen. Schließlich sind es ja die bedeutsamen Begegnungen, die unser Leben reich machen. Ich danke Ihnen sehr für den Kommentar und Denkanstoß.

1. von geno

Wir sind sehr angerührt von diesem wunderbaren Beitrag. Besonders von der Geschichte deines Vaters! Welch ein tiefes ur-vertrauen steckt darin!!!! Das macht wohl einen entscheidenden teil für Freundschaft aus. Sich aufgehoben wissen ohne wenn und aber, ohne Bedingungen. ....einfach angenommen so wie ich bin. Danke josch dass wir die dritten bei dir im Bund sein dürfen.

vom 07.07.2016, 11.19
Antwort von Josch:

... Ganz herzlichen Dank für Eure Freundschaft! Ich bin sehr froh, dass es Euch gibt!
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