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Mutige Menschen: die belarussische Freiheitsbewegung
Am 9. August 2020 fanden in Belarus Wahlen statt, bei der nach offizieller Schreibweise über 80 Prozent der Wähler für Alexander Lukaschenko stimmten, den letzten Diktator Europas, der seit 1995 Präsident des Landes ist. Im Jahr seines Amtsantritts fiel Lukaschenko mit einer Aussage über Hitler auf, als er erklärte: „Es dauerte Jahrhunderte, um die deutsche Ordnung herzustellen. Unter Hitler erreichte diese Formation ihren Höhepunkt. Dies entspricht unserem Verständnis einer Präsidentenrepublik und der Rolle eines Präsidenten darin.“ Das sagt eigentlich alles über diesen Menschen. Zum Jahrestag der Wahlen vor einem Jahr und dem mutigen Protest der Menschen im Anschluss daran erschien im Verlag das kulturelle Gedächtnis das Buch „Stimmen der Hoffnung“.
Der Protest geht weiter
Das Zentrum für verfolgte Künste begleitet das Erscheinen des Buches mit einer Social-Media-Kampagne und Streamings von Beiträgen des Buchs. Wie der Verlag in einer Pressemitteilung ankündigt, wird das Buch von zahlreichen Einzelpersonen und Institutionen unterstützt, und pro verkauftem Exemplar des Buches gehen 2,00 € an gemeinnützige belarussische Organisationen.
Als ich die Bilder der Menschen in Belarus im Fernsehen sah, wie sie letztes Jahr nach der Wahlmanipulation zu Tausenden auf die Straße gingen, wartete ich jeden Tag mit Spannung auf die Nachrichten in der festen Überzeugung, dass die weiß-roten Proteste Wirkung zeigen würden und der Diktator bald kapitulieren würde. Wie falsch ich doch lag. Oder war ich nur uninformiert? Wir können uns nicht vorstellen, dass man nicht sagen darf, was man denkt. Wahlmanipulationen sind undenkbar. Bei uns gibt es Presse- und Demonstrationsfreiheit. Bei uns fühlen sich Menschen unterdrückt, wenn sie andere Menschen mit Masken und Impfung gegen Ansteckung schützen sollen.
Was sind das dagegen für mutige Menschen, die wegen ihrer Unterdrückung auf die Straßen gehen und die sich nicht unterkriegen lassen. Wir kennen mittlerweile alle ihre Namen: von Swetlana Tichanowskaja, über Maria Kolesnikowa, Kristina Timanoswskaja, Roman Protassewitsch oder Sergej Tichanowski – um nur einige prominente Vertreter zu nennen.
„Wir waren wie Regenwürmer, die vor lauter Freude in den Regen rausgekrochen waren, und als der Regen vorbei war, auf dem Asphalt liegen blieben, bei Bedingungen, unter denen man nicht überleben konnte.“
Auch wenn es scheint, als sei der Protest unterdrückt und mittlerweile in den Hintergrund getreten, weil die Polizeikräfte und die OMON, eine „Polizeieinheit mit besonderer Bestimmung“, die vermummt auftreten und das Gesicht feige verbergen, zu brutal gegen die Menschen vorgehen. Doch der Protest geht weiter. Er wird subtiler.
Das Buch
In „Stimmen der Hoffnung“ berichten Menschen von ihren Verhaftungen, von ihren Beobachtungen und von ihren Hoffnungen. Hoffnungen auf einen Umsturz, auf Freiheit, auf einen Sieg der Demokratie. Einer Hoffnung, die sich unter anderem an die mehr als zaghaften Sanktionen der EU knüpft. Dass die Sanktionen jemals Wirkung zeigen werden, kann ich nicht mehr glauben, wenn ich die langen Arme der Gewalt sehe, die bis nach Japan reichen, wo die belarussischen Sportfunktionäre die Sprinterin Kristina Timanowskaja entführen wollten. Es erinnerte mich sehr an Rudolf Nurejew, der sich in Paris in letzter Minute vor den Häschern des KGB in Sicherheit bringen konnte (siehe meine Filmbesprechung auf diesem Blog: Assamblé in die Freiheit.)
Eine Meditation in dem Buch hat es mir besonders angetan:
geduld
die zeit arbeitet für uns
der vereinte rhythmus des landes
einatmen ausatmen
einatmen ausatmen
mit dem drachen darf man nicht
in der sprache der gewalt sprechen
in seiner sprache
nur der psychiater
nicht töten
nur ein langes leben
auf der farm
auf der schweinefarm
wo sich das ungeheuer
zu Hause fühlt
mit den menschen sprechen
mit den beamten
mit den militärs
mit den ärzten
mit den menschen
miteinander sprechen
eine gemeinsame sprache finden
eine neue
mit vertrauen und hoffnung
mit liebe
aus voller brust atmen
aus einer brust
das ganze land
einatmen ausatmen
einatmen ausatmen
die zeit arbeitet für uns
geduld
Allina Lisitzkaya (Hrsg.): Stimmen der Hoffnung. Aufzeichnungen, Gedichte, Texte der belarussischen Freiheitsbewegung. Verlag das kulturelle Gedächtnis. Berlin 2021. 224 Seiten. ISBN 978-3-946990-58-1, 22,00 €
Josch 15.08.2021, 14.51
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